Die Toten Vom Karst
als letzter das Sitzungszimmer betrat, bemerkte er, daß sich alle Augen nach der Neuen umsahen – nicht nur die männlichen Kollegen, die natürlich in der Überzahl waren. Es war anders als sonst, wenn ein neues Gesicht im Kollegenkreis vorgestellt wurde. Erstens wurde dies im voraus immer bekanntgegeben, und zweitens waren all die Neuen bisher nicht ein Viertel so attraktiv gewesen wie diese Dame.
Die Sitzordnung am langen Tisch war wie immer streng hierarchisch, und weil der amtierende Vize-Questore, den Laurenti einmal beerben würde, noch immer krank war, hatte der Polizeipräsident, der am Kopfende saß, sie auf dessen freien Stuhl gesetzt. Direkt neben Proteo Laurenti, den sie neugierig anschaute, als sie ihn auf sich zukommen sah. Er grüßte sie mit einem freundlichen Kopfnicken und setzte sich, schaute dann in die Runde und sah, daß die Kollegen der anderen Kommissariate erwartungsvoll auf ihn blickten. Ihm gegenüber saß der hagere Leitende Staatsanwalt mit seinem wie üblich grauen Gesicht und den mit Unmengen von Pomade streng zurückfrisierten schwarzen Haaren. Der hatte eigentlich nichts auf den Sitzungen der leitenden Beamten zu suchen.
»Signori«, begann der Questore, »wir haben Sie sehr kurzfristig zu dieser Sitzung einberufen. Der Leitende Staatsanwalt hat heute hohen Besuch, den er Ihnen selbst vorstellen wird.«
Der Pomadenkopf räusperte sich zweimal mit vorgehaltener bleicher Hand. An den Manschetten seines Hemdes glänzten goldene Knöpfe. »Europa wächst«, hob er mit zittriger Stimme an. »Die Probleme, die uns heute beschäftigen, haben immer mehr mit den Grenzen zu tun. Und die Grenzen Europas verändern sich. Seit kurzem sind zum ersten Mal italienisch-slowenische Grenzpatrouillen im Einsatz. Slowenien wird bald in die EU aufgenommen werden. Das sind große Fortschritte. Auch unser anderer Nachbar, Kroatien, rückt näher. Dadurch kommen Möglichkeiten auf uns zu, die uns bisher fehlten – aber auch neue Probleme. Ich spreche nicht nur von der illegalen Einwanderung, die sich, wie Sie alle wissen, an unserem Grenzabschnitt gegenüber dem Vorjahr verzwölffacht hat. Die Schleuserbanden bringen weitere Konflikte mit sich: Erpressung, Drogen, Prostitution, Waffen, Geldwäsche und so weiter. Rechnen Sie damit, daß alleine diese dreißigtausend Illegalen, die wir in diesem Jahr aufgegriffen haben, gut und gerne 786 Milliarden Lire eingebracht haben. Dieses Geld will nicht ruhen, es wird in Umlauf gebracht für andere Geschäfte. Aber das wissen Sie ja.
Die Zusammenarbeit zwischen Kroatien und Italien lief in der Vergangenheit nicht immer reibungsfrei. Das wird sich aber bald ändern, in Kroatien ist seit dem Tod Tudjmans ein gewaltiger politischer Ruck zu spüren.«
Laurenti drehte den Kopf zu seiner Nachbarin, deren Augen kurz zu ihm herüber schwenkten, dann aber zu dem Redner zurückkehrten. »Wann kommt er endlich zur Sache?« murmelte Laurenti.
»Istrien ist politisch dreigeteilt. Den daraus entstehenden Problemen kann man nur durch eine intensive Zusammenarbeit der Behörden begegnen, wie es jetzt auch von kroatischer Seite befürwortet wird«, fuhr der Leitende Staatsanwalt fort. »Bei uns am Tisch sitzt heute Dottoressa Živa Ravno, Staatsanwältin in Pula«, er sagte tatsächlich Pula, nicht Pola, wie es auf italienisch hieß. »Dottoressa Ravno ist die Leiterin der Ermittlungsbehörden Istriens, entschuldigen Sie bitte, natürlich des kroatischen Teils Istriens, von Pula, Abbazia bis hoch zur Grenze bei Pirano.« Jetzt hatte er die Städte bei ihren italienischen Namen genannt. Proteo Laurenti mußte grinsen und schielte wieder zu seiner Nachbarin.
»Signori, das ist bereits ein Zeichen für einen großen Fortschritt. Kroatien hat erkannt, daß es für diesen Teil des Landes eine eigene Regelung braucht, um den Problemen Herr zu werden. Dottoressa Ravno hat an dieser Maßnahme erheblichen Anteil und sie wird, zu meiner ganz speziellen Freude«, der Pomadenkopf bedachte seine deutlich jüngere Kollegin mit einem schmierigen Lächeln, »auch die vereinbarte Zusammenarbeit zwischen ihrem Land und Italien leiten. Wir werden also zukünftig viel Kontakt haben und Sie, Signori, sollen wissen, daß es der ausgesprochene Wunsch auch der Regierung ist, daß dieser intensiv und effizient stattfinden soll. Ich hatte den Questore deshalb darum gebeten«, jetzt warf er diesem einen Blick zu, als wollte er einen schmutzigen Witz erzählen, »daß Signora Živa, Verzeihung,
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