Die Toten von Bansin
er Sören mit, wie sehr er dieses Dorf hasst, das Haus und die Menschen.
»Ich kann nicht leben hier â keine Farbe, alles schwarz und grau. Ist kalt hier und traurig, wie soll ich arbeiten, ich bin Künstler, ich kann das nicht.«
»Dann mal halt schwarz und grau, das sind tolle Bilder, mir gefallen sie jedenfalls. Ein bisschen müssen wir noch hierbleiben, das weiÃt du doch.«
Sören isst weiter, ohne sich um das alltägliche Gezeter seines Lebensgefährten zu kümmern. Wie ein Tiger im Käfig läuft der temperamentvolle Südländer in dem engen Raum umher und erklärt mit groÃen Gesten und dramatischer Stimme, er werde hier sterben oder aber Sören verlassen â bald, morgen vielleicht â und allein zurück nach Spanien gehen.
Der blonde junge Mann schiebt schlieÃlich den Teller beiseite und seufzt genervt. Es war wirklich eine blöde Idee, Carlos mit hierher zu bringen. Sie hatten sich im Winter in Tirol kennen gelernt, wo Sören als Skilehrer arbeitete. Der Spanier hatte von Anfang an eine Aversion gegen die Ostseeinsel und in der ersten Verliebtheit hatte Sören versprochen, seinen Besitz auf Usedom zu verkaufen und das Geld in eine Surfschule auf Mallorca zu investieren. Aber inzwischen scheint ihm diese Idee gar nicht mehr so verlockend. Er kann sich einfach nicht entschlieÃen, sein Elternhaus zu verkaufen und würde am liebsten hierbleiben. Je mehr sein Partner sich in die Abneigung gegen die Insel und ihre Bewohner hineinsteigert, desto mehr wird ihm klar, wie sehr er selbst mit allem hier verbunden ist.
Auch Carlosâ Charakter ist ihm auf Dauer zu anstrengend. Sein Freund ist überempfindlich, krankhaft eifersüchtig und fasst jeden harmlosen Scherz als tödliche Beleidigung auf. AuÃerdem scheint er von Tag zu Tag gebrochener Deutsch und mehr Spanisch zu sprechen. Sören meint sich zu erinnern, dass sie beide im Oetztal ohne Schwierigkeiten in seiner Muttersprache kommuniziert haben. Hat Carlos nicht sogar deutsche Wurzeln erwähnt? Alle Versuche, den Spanier in die neue Umgebung zu integrieren, sind absolut gescheitert. Nur ein einziges Mal waren sie beide gemeinsam im Fitnessstudio. Ob ihn dort vielleicht jemand gekränkt hat? Dem blonden Deutschen ist Carlosâ Wut auf seine Landsleute ein Rätsel.
Wenn er doch nur seine Drohung, nach Spanien abzureisen, wahr machen würde! Aber das wird er nicht tun, ohne sein Geld zurückzufordern. Sören ärgert sich, dass er die Ersparnisse seines Freundes angenommen hat, um das Dach des Hauses neu decken zu lassen. Bei einem Verkauf hätte sich diese Investition durchaus gelohnt, zumal ihm der Rohrdachdecker, ein guter Bekannter, einen Freundschaftspreis gemacht hat.
Sören überlegt, von wem er sich Geld leihen könnte, um Carlos auszuzahlen. Arno Potenberg oder Paul Plötz würden ihm sicher helfen, aber es ist peinlich, sie darum zu bitten. Vielleicht sollte er es einfach bei der Bank versuchen. Er könnte in den nächsten Tagen mal ins Kehr wieder gehen, wo er Manfred Jahn, den Banker, vermutlich am Stammtisch trifft. Oder geht er doch lieber zur Fischerbude? In letzter Zeit hat er seine Freunde ohnehin ziemlich vernachlässigt.
Ohne sich weiter um Carlos zu kümmern, der gerade das geschlossene Fenster anbrüllt, schiebt er die Hände in die Hosentaschen und verlässt leise pfeifend das Haus.
Dienstag, 16. Oktober
Steffi ist inzwischen Stammgast im Kehr wieder . Sie bewohnt eine Ferienwohnung direkt im Haus gegenüber, wo auch Sophie die Dachgeschosswohnung gemietet hat. Aber die Kölnerin ist nicht gern allein. Oft kommt sie schon zum Frühstück in die Pension, hilft beim Aufräumen oder in der Küche, oder sie fährt mit Sophies Auto für die Frauen einkaufen. Dabei ist sie nicht aufdringlich und merkt schnell, wenn sie nicht gebraucht wird. Ansonsten unternimmt sie lange Spaziergänge an der Steilküste oder am Strand entlang bis in die Nachbarorte. Oder sie bummelt einfach durch Bansin, sieht sich in den Geschäften um, trinkt mal hier und mal dort einen Kaffee und freut sich, wenn sie jemanden trifft, den sie kennt. Nachdem sie ein paar Mal im Kreis gefahren ist, kennt sie sich sogar mit der komplizierten Verkehrsführung im Ort aus, der für einen Nichteingeweihten nur aus EinbahnstraÃen zu bestehen scheint.
Fast täglich sucht sie Plötz in seiner Bude auf, trinkt mit ihm ein Bierchen,
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