Die Toten von Bansin
schwärmt ihm von Köln vor oder von ihren Enkeln und hört ihrerseits interessiert zu, wenn er von seinem Leben in der DDR erzählt.
Wie immer täglich gegen elf Uhr sitzt Sophie mit ihren Angestellten, der Köchin Renate, einer Kellnerin und einer Zimmerfrau, am Stammtisch, um zwischen Frühstück und Mittagsgeschäft eine Tasse Kaffee zu trinken und die anfallenden Aufgaben zu besprechen. Sie haben gerade den Arbeitsplan für die nächste Woche erstellt, als Steffi empört schnaufend hereinkommt.
»Stör ich?« Sie bleibt zögernd stehen.
»Nein, wir sind gerade fertig. Möchtest du auch einen Kaffee?« Sophie steht schon auf, um eine Tasse zu holen.
»Ja, gern. Ich bin vielleicht sauer, sag ich euch. Ich musste doch heute zum Doktor. Nicht, dass ich malad bin, ich muss bloà immer mal hin, wegen der Pillen und so. Nicht die Pille«, erklärt sie der Kellnerin, die sie mit groÃen Augen ansieht, »sondern Tabletten für meine Pumpe und zum Einschlafen und Spray, falls mir mal die Luft wegbleibt. Eigentlich brauchte ich das gar nicht mehr, seit ich hier bin, geht es mir ja schon viel besser. Na ja«, sie atmet tief ein und trinkt einen Schluck Kaffee, den Sophie ihr hingestellt hat, »da hab ich jetzt über eine Stunde rumgesessen und nun hab ich immer noch kein Rezept. Da geht alles drunter und drüber. Erst war der Doktor wohl noch da und dann kam die Schwester, so eine alte, struppige, und sagte, er musste plötzlich weg und die Sprechstunde fiele aus. Ein Rezept hat sie mir auch nicht gegeben. Was sind das für Fisematenten? Und soll ich euch was sagen? Ich glaub, der Doktor war betrunken. So, wie der aussah! Und ich hab das schon mal gedacht, als ich bei dem war, dass das ein Säufer ist. Ich hab einen Blick für so etwas.«
Berta kommt herein, sie holt sich ihren Kaffee gleich selbst, bevor sie sich an den Tisch setzt und Steffi alles noch einmal erzählt. »Der Tünnes!«, schlieÃt sie empört.
Sophie blickt betroffen. »Ich mag den Doktor Moll eigentlich, der ist wirklich nett und ich halte ihn für sehr kompetent. Meint ihr wirklich, der trinkt?«
Ihre Tante nickt zögernd. »Möglich ist es. Aber das würde mir wirklich leidtun. Er ist trockener Alkoholiker. Vor ungefähr zehn Jahren war es ganz schlimm mit ihm. Ich glaube, Schwester Marita hat ihm viel geholfen, dass da nichts passiert ist, mit seinen Patienten. Sie hat ihn öfter nach Hause geschickt und gesagt, dass er krank sei oder dringend weg müsse. Hoffentlich geht das jetzt nicht wieder los.«
Renate überlegt. »Stimmt. Jetzt, wo du es sagst â da gab es wirklich so ein Gerücht, dass er trinkt. Hat seine Frau ihn deshalb nicht auch verlassen?«
»Ja, das wurde jedenfalls erzählt. Das könnte so ungefähr um die Zeit gewesen sein. Seine Tochter war da gerade so 14, 15 Jahre alt. Sie ist bei ihm geblieben. Er hat dann wohl einen Entzug gemacht, ich hab jedenfalls nie wieder gehört, dass er trinkt.«
»Na ja,« Renate zuckt mit den Schultern, »du weiÃt aber selbst, wie oft das passiert. Ich finde, zu DDR-Zeiten war das noch viel schlimmer. Wie viele von unseren ehemaligen Kollegen haben gesoffen und wer hat es wirklich geschafft, damit aufzuhören?«
Berta nickt. »Das stimmt schon. Damals war das Trinken so etwas wie ein Kavaliersdelikt, besonders in der Gastronomie.« Sie überlegt. »Irgendwie lag es auch wohl daran, dass wir öfter zusammengesessen und gefeiert haben. Einen Anlass gab es ja immer. Heute ist jeder mit sich selbst beschäftigt und bleibt abends zu Hause vor dem Fernseher.«
»Manche konnten es ab und andere wieder nicht, die wurden dann abhängig«, fährt die dicke Köchin fort. »Ich hab ja auch genug gesoffen, aber dann hab ich eben aufgehört. Sonst könnte ich hier ja auch nicht arbeiten. Stimmtâs Berta?« Die Angesprochene nickt. »Aber siehst du, Christine Jahn schafft es auch nicht. Wie oft wollte die schon aufhören, hat Entziehungskuren gemacht und so was. Aber die hat nach wie vor Durst wie eine Ziege.«
Berta ist es etwas unangenehm, dass Renate so abfällig über einen von Sophies Stammgästen spricht. Aber Steffi hat sich sicher schon ein eigenes Bild von dem Ehepaar Jahn gemacht, mit dem sie bereits einige Male am Stammtisch zusammengesessen hat. Manfred Jahn ist ein unauffälliger Mann, besitzt wenig Humor
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