Die Toten von Bansin
Wo sind die denn?«
»Ja, zwei Jungs. Der eine ist mit meinem zusammen zur Schule gegangen. Die sind schon lange weggezogen. War wohl nicht mehr schön bei denen zu Hause. Ich weià nicht, ob sie ihren Vater noch besuchen oder mal anrufen, keine Ahnung. Er spricht nie von ihnen. Na, er spricht ja sowieso nicht viel.«
»Wo hat der eigentlich gearbeitet?«
»Auf dem Bau und als Hausmeister. Er ist aber schon lange arbeitslos. Wer braucht schon einen Maurer in dem Alter. Da sind die Knochen doch kaputt. Und im Winter sind die vom Bau ohnehin fast alle zu Hause.«
»Dabei bauen die doch genug«.
»Und was für einen Mist!«, erbost sich der Fischer. »Ich bin letztens mal so die Promenade langgefahren, hier im Ort geht es ja noch, aber dann â du musst dir das mal ankucken! Die schönen alten Häuser verschwinden so nach und nach und auch die Bäume auf den Grundstücken an der Promenade, dafür werden da Betonklötze hingesetzt, nicht zum Aushalten, sag ich dir. Hauptsache Betten, Betten und Gaststätten. Na, die werden sich noch mal umschauen, wenn die Gäste wegbleiben. Wer will denn so was! Die kommen doch hierher wegen der schönen Gegend. Alle reden dauernd von Naturschutz und dann so etwas. Ich frage mich nur, wer das genehmigt. Da schimpfen sie schnell auf die Wessis, aber im Gemeinderat, da sitzen Einheimische!«
Berta ist in Gedanken noch bei dem alten WeiÃhaarigen und hört nur mit halbem Ohr. Sie möchte Plötz fragen, wie der Mann eigentlich heiÃt, will ihren Freund aber in seiner Schimpftirade nicht unterbrechen. âºEs ist doch seltsam, wie wenig man über einen Menschen weiÃ, den man so oft sieht und mit dem man sich ja auch unterhält. Aber der WeiÃhaarige spricht nie über sich selbstâ¹, denkt sie, âºimmer nur über Fisch und Wetter oder über andere Leute. Und über die selten freundlich, scheinbar kann er niemanden so richtig leiden, auÃer Plötz vielleicht. Na ja, von einem Mann, dessen Kind ertrunken und dessen Frau an Krebs gestorben ist, der weder Geld noch Arbeit, aber einen kaputten Rücken hat, kann man wohl keine angenehme Unterhaltung verlangen.â¹
Freitag, 16. November
Sophie schlendert langsam auf der Strandpromenade entlang. Sie musste einfach mal das Haus verlassen, um ihre Gedanken zu ordnen. Bei einem Spaziergang kann sie immer am besten nachdenken. Leider kommt sie nicht mehr oft dazu, seit sie die Pension führt.
Es stört sie nicht, dass sie im dichten Nebel nur wenige Meter weit sehen kann. Sie zieht sich die Kapuze über den Kopf und steckt die Hände in die Taschen ihres Anoraks. Kein Mensch ist zu sehen. Auch das liebt sie an diesem Ort: diese Kontraste in den Jahreszeiten. Noch vor wenigen Wochen herrschte hier dichtes Gedränge, Spaziergänger und Radfahrer machten sich gegenseitig den Platz streitig, Tische und Stühle standen überall vor den Gaststätten, Stimmengewirr übertönte die Musik aus den Cafes, es roch nach gegrillter Bratwurst und Waffeln.
Jetzt ist es still und es riecht nach Meer. Viele Gaststätten sind geschlossen, nur in den Hotels sieht man Licht. Die meisten Ferienwohnungen stehen leer.
Sophie geht weiter, bis zum Ende des Seebades. Auf dem Rückweg geht sie an ihrem Haus vorbei und dann auf die Seebrücke.
Langsam schlendert sie den Brettersteg entlang. Nur das leise Plätschern der Wellen ist zu hören und vereinzelte Möwenschreie. Am Brückenkopf bleibt sie stehen und blickt zurück. Das Ufer ist nicht zu sehen, die Wasserfläche geht in Nebel über. Sophie fühlt sich wie auf einer einsamen Insel, von der Welt abgeschnitten. Eine groÃe Ruhe erfüllt sie.
In der Stadt war sie immer rastlos, suchte ständig Veränderung, im Beruf und im Privatleben. Jetzt ist sie angekommen. Sie ahnt, dass ihre GroÃmutter einst so ähnlich gefühlt haben muss, als sie aus Berlin kam und sich entschied, hierzubleiben. Das hier ist ein Zuhause. Nicht nur das Meer, die Landschaft, die Häuser, sondern vor allem die Menschen.
Sophie denkt an Arno. Auch bei ihm fühlt sie sich angekommen. Sie lächelt. Er ist so ganz anders, als die Freunde, die sie vor ihm hatte. Obwohl er jünger ist als sie, scheint er viel reifer zu sein. Er ist auf den ersten Blick nicht besonders attraktiv, mit seiner hageren Gestalt, den groÃen Händen und FüÃen und der etwas zu klobigen Nase. Er ist auch
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