Die Toten von Bansin
hinweg in Richtung Tür. Im Flur findet sie Teile ihres Telefons auf dem Boden.
In der Küche sieht alles normal aus. Langsam, die Hand an das Geländer gekrampft, geht sie nach oben. Ãngstlich öffnet sie die Tür zum Schlafzimmer und bleibt stehen, fast schon mehr schicksalsergeben als erschrocken. Ein durchdringender Geruch von schalem Bier und Schnaps schlägt ihr entgegen. Da auch hier die Jalousien geschlossen sind, schaltet sie das Licht an. Die Türen des Kleiderschrankes stehen weit offen, die Kleiderstangen sind leer. Kleidung, Schuhe und Wäsche sind im Zimmer verteilt. Alles, auch das Bett, ist mit Bier, Schnaps und Wein übergossen. Ãberall liegen leere Flaschen.
Die Witwe wankt ins Bad und übergibt sich in die Toilette.
Danach geht sie in die Küche, setzt sich auf einen Stuhl und starrt die Wand an. Nach einer gefühlten Ewigkeit beschlieÃt sie, etwas zu essen und Kaffee zu trinken, um die Halluzinationen verschwinden zu lassen. Sie widersteht der Versuchung, noch einmal ins Wohnzimmer zu gehen und schlieÃt die Küchentür. Der Spuk muss die Chance haben, zu verschwinden.
Umständlich kocht sie Kaffee, schmiert Brote und isst. Ihr wird wieder übel, aber sie zwingt sich zum Essen und trinkt zwei Tassen Kaffee. Dann räumt sie alles weg und wäscht das Geschirr ab. Während der ganzen Zeit hat sie Angst. Ihr Herz klopft bis zum Hals und ihre Hände zittern so, dass sie kaum die Tasse zum Mund bekommt. Am liebsten würde sie schreien, aber das darf sie nicht. Nur nicht durchdrehen, nicht die Kontrolle verlieren.
Als sie mit allem fertig ist, setzt sie sich wieder auf den Küchenstuhl und blickt auf die Tür. Sie möchte den kleinen Funken Hoffnung bewahren und weià doch schon: Das Inferno ist kein Albtraum, sondern Realität.
Einer plötzlichen Eingebung folgend springt sie auf und läuft zur Haustür. Sie drückt auf die Klinke: die Tür ist abgeschlossen. Sie blickt über die Trümmer im Wohnzimmer und sieht, dass die Terrassentür verriegelt ist. Schnell überprüft sie alle Fenster und Türen im Erdgeschoss und im Keller. Es ist alles verschlossen. Also, keine Polizei, beschlieÃt sie. Was würden die denken? Irgendjemand ist ins Haus eingedrungen, während sie schlief, hat alles verwüstet, ohne, dass sie dabei wach wurde, und hat dann die Tür wieder hinter sich abgeschlossen? Das klingt, nein, es ist verrückt.
Bestenfalls würden die Polizisten sie bedauern, weil sie den Tod ihres Mannes noch nicht verarbeitet hat und ihr dringend anraten, weniger zu trinken. Schlimmstenfalls würde sie in eine Klinik eingewiesen werden. Das wäre sogar wahrscheinlicher.
Die schlanke Frau setzt sich hin und überlegt. Ist sie tatsächlich wahnsinnig? Hat sie hier alles selbst zerstört? Ist es so, wenn man den Verstand verliert, dass man sich dessen nicht bewusst ist? Dass man zeitweise ganz klar ist und dann wieder völlig austickt? Seit Manfreds Tod gibt es immer wieder Zeiträume, an die sie sich überhaupt nicht erinnert.
Nur so kann es sein. Der »groÃe Unbekannte«, der Tag und Nacht in ihrem Haus herumspukt, ist eine Wahnvorstellung. Manfred hat schon immer gesagt, sie würde eines Tages ihren Verstand versaufen. Nun ist es also geschehen.
Christine Jahn sieht sich um. Sie ist jetzt sogar etwas ruhiger. Es war kein Fremder im Haus!
Aber was kann sie tun? Als Erstes muss sie mit dem Trinken aufhören. Rigoros. Sofort. Dann aufräumen. Es soll niemand sehen, was hier geschehen ist, auch Berta nicht. Nein, selbst mit ihr will sie nicht darüber reden. Sie wird aufräumen, sauber machen, waschen, den ganzen Schaden beseitigen und dann vergessen. Wenn sie nicht mehr daran denkt und mit niemandem darüber spricht, ist es, als wäre nichts geschehen.
Schnell steht sie auf. Was, wenn Berta jetzt kommt? Sie wird nicht öffnen. Immerhin könnte sie ja auÃer Haus sein, einen Spaziergang machen. Nicht so laut. Erst das Wohnzimmer. Nein, erst mal nach oben. Christine geht in ihr Schlafzimmer, öffnet das Fenster weit und sucht einige Kleidungsstücke heraus, die sie mit nach unten nimmt und in die Waschmaschine steckt. Dann holt sie Müllbeutel und füllt sie mit Scherben, Blättern und Blumenerde. Jedes Buch nimmt sie einzeln in die Hand, die meisten wirft sie in einen Karton, den sie aus dem Keller geholt hat. Den wird sie später zur Papiertonne
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