Die Toten von Bansin
bringen. Das Gemälde bringt sie erst einmal in den Keller, irgendwann wird sie es auch entsorgen müssen. Nach kurzer Ãberlegung, ob der Rotweinfleck wohl auszuwaschen geht, rollt sie den Teppich einfach zusammen und schafft ihn ebenfalls hinunter in den Keller. Inzwischen ist es drauÃen dunkel. Christine tritt auf die Terrasse hinaus und atmet tief durch. Schemenhaft sieht sie die kahlen Büsche und Bäume, es ist kalt, aber es hat noch immer nicht geschneit. Sie versucht sich vorzustellen, es wäre Sommer. Die Blumen blühen, am Baum hängen unreife Ãpfel, es riecht nach Jasmin und dem Grillrauch ihrer Nachbarn und sie sitzt in ihrer Hollywoodschaukel, schlägt nach den Mücken und trinkt ein kühles Bier. Nein, kein Bier mehr. Sie geht wieder ins Haus, holt einen Eimer Wasser und wischt den Boden auf. An der Tür bleibt sie stehen. Das Zimmer sieht fremd und kahl aus.
In der Waschmaschine dreht sich inzwischen die Bettwäsche. Christine Jahn holt die Kleidungsstücke aus dem Trockner und geht damit nach oben. Dort öffnet sie ihre Schlafzimmertür, überlegt kurz und bringt die Sachen in das Arbeitszimmer ihres Mannes. Dann nimmt sie einen weiteren Arm voll Wäsche mit nach unten. Die Bettwäsche ist noch nicht fertig und sie beschlieÃt, in der Zwischenzeit etwas zu essen.
Den ganzen Nachmittag, während sie aufgeräumt und geputzt hat, ist es ihr gelungen, nicht über das Geschehen nachzudenken. Sie hat nur an das gedacht, was sie gerade tat. Jetzt kriecht die Angst wieder in ihr hoch. Und wenn sie es doch nicht selbst war? Sie springt auf und schlieÃt die Haustür ab. Dann schlieÃt sie auch die Terrassentür, die sie einen Spalt breit geöffnet hatte, weil es noch immer nach Bier riecht.
Mit einem Glas Tee und einem Käsebrot geht sie ins Wohnzimmer, setzt sich auf die Couch und schaltet das Fernsehgerät ein. Sie will sich ablenken und sich nicht so allein fühlen. Angestrengt versucht sie, der Handlung eines Filmes zu folgen, aber es gelingt ihr nicht. Ungeduldig schaltet sie weiter, doch sie kann sich auf nichts konzentrieren. Christine Jahn trinkt einen Schluck von ihrem Tee, der inzwischen erkaltet ist, und schüttelt sich angewidert.
âºSo ein Unsinnâ¹, denkt sie, während sie auf den Bildschirm blickt, ohne zu wissen, was sie dort sieht, âºman kann doch in so einer Stresssituation nicht aufhören zu trinken. Das kann ja gar nicht funktionieren. Das wird mir jeder Psychologe bestätigen. Ich muss erst mal wieder runterkommen, alles verarbeiten und ruhig werden. Und dann kann ich auch ohne Alkohol auskommen. Notfalls hole ich mir eben doch Hilfe. Vielleicht gehe ich ja mal zu Doktor Moll, wenn der wieder da ist. Der hat bestimmt Verständnis für mich. Ja, das ist eine gute Idee. Wenn mir jemand helfen kann, dann er. Ich muss nur so lange durchhalten, bis er wieder in der Praxis ist. Inzwischen muss ich vorsichtig sein. Ich darf nur so viel trinken, dass ich ruhig werde, nicht zu viel. Heute habe ich noch gar nichts getrunken. Deshalb geht es mir so schlecht. Ich könnte jetzt auch gar nicht schlafen. Nein, das kann nicht gut sein, das macht mich noch völlig verrückt. Ich will auch keine Angst mehr haben, nicht mehr nachdenken.â¹
Sie geht in die Küche und holt sich ein Bier. Es ist nur noch eine Flasche da, die zischt auch gar nicht, als sie sie öffnet. Ist das überhaupt noch gut? Ach, egal. Christine nimmt Weinbrand aus dem Küchenschrank, trinkt einen groÃen Schluck direkt aus der Flasche und schüttelt sich. Dann geht sie mit dem Bier und einem Glas ins Wohnzimmer und setzt sich wieder auf die Couch. Einen Moment lang glaubt sie, ein Gesicht am Fenster zu sehen. Sie trinkt einen Schluck von dem schalen Bier, dann geht sie wieder in die Küche, gieÃt sich ein Wasserglas halb voll Schnaps und nimmt es mit hinein. Eine halbe Stunde später ist sie auf der Couch eingeschlafen. Im Schlaf hört sie ein Flüstern: Du hättest aufpassen müssen! Warum hast du nicht aufgepasst?
Wieder erlebt sie diesen Sommertag vor fast zehn Jahren. Heute träumt sie noch intensiver als sonst. Sie sieht jetzt das Mädchen ganz deutlich vor sich, das auf das Kind aufpassen sollte. Inka Weber ist es, die sie rüttelt und schreit: »Wo ist der Junge?« Im Traum wird sie wach, sieht zu dem Sandauto, das der Junge offenbar nicht fertig gebaut hat, und schüttelt den Kopf. »Ist
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