Die Toten von Crowcross
waren seit Generationen einfache Arbeiter. Aber seine Eltern lebten noch zusammen, und Nigel hatte seine Schulzeit genutzt, hatte alle Prüfungen mit Bravour bestanden und einen tollen Schulabschluss hingelegt (das alles hatte Claire mir bei anderer Gelegenheit erzählt, und auch, dass er ein hervorragender Sportler und unglaublich beliebt gewesen sei, besonders bei den Mädchen). Anschließend hatte er an der London School of Economics studiert (Wirtschaft) und war zur Promotion nach Oxford gewechselt. Irgendwann auf seiner Reise aus der Gosse hinauf in akademische Höhen hatte Nigel den Akzent seiner Herkunft abgelegt und sich eine wortgewandte, klassenlose Sprache zugelegt, während Claire, obwohl ich damals nie darüber nachgedacht habe, eher eine Bewegung nach unten gemacht hatte. Trotzdem waren Nigels Art, zu sprechen, und das, was er sagte, nie auch nur annähernd so beeindruckend wie sein unglaubliches Selbstbewusstsein.
Mittlerweile waren wir mitten im tiefsten Wald. Die Bäume erhoben sich schwarz ins schwindende Nachmittagslicht. Ich hatte nur eine Frage und stellte sie rundheraus: Warum? Claire war bereits reich, und Nigel würde es nicht schwer haben, ebenfalls reich zu werden. Warum lebten sie so spartanisch in diesem alten Haus auf dem Land, riskierten es, eingesperrt zu werden, und hielten die Köpfe hin?
Die beiden sahen einander an und schienen zu überlegen, was sie darauf antworten sollten.
»Martin«, sagte Nigel endlich lächelnd (er trug immer dieses selbstsichere Lächeln zur Schau, wenn er einen von etwas zu überzeugen versuchte), »Wohlstand ist nichts als eine Rauchwolke, eine große, fette Ablenkung. Egal, wie viel du hast, es gibt immer einen, der noch mehr hat, und all der Reichtum kommt von Leuten, die dafür ausgebeutet worden sind, von Leuten, denen alles genommen wurde. Wenn die Menschen sich nicht endlich zusammenraufen, wenn sie nicht lernen, zu teilen, was sie haben, sondern sich weiter die Köpfe einschlagen, dann erwischt es uns alle… dann sind wir verloren. Wenn du das erst mal begriffen hast, kommst du nicht wieder davon los, das lässt sich nicht rückgängig machen, und also musst du entsprechend handeln.«
Er gab mir die Flasche, und ich trank noch einen Schluck Reiswein. Die ganze Woche schon hatte mich Andy (gelegentlich auch Hilary) in die Grundzüge der revolutionären Theorie eingeführt und dabei ganz besonders hervorgehoben, dass es für einen Revolutionär nie allein um einen Punkt ging. Atomwaffen abzuschaffen war gut und schön, genau wie für die Rechte der Schwulen oder Schwarzen einzutreten oder dafür zu kämpfen, dass alle Truppen aus Nordirland abgezogen wurden ế Einige dieser Ziele würden fraglos kurzfristig erreicht werden, andere nicht. Was aber viel wichtiger sei, hatten sie wieder und wieder erklärt, sei die Tatsache, dass es sich bei all diesen Themen um Zugangswege handele, auf denen die Leute, vor allem junge Leute, an die wahre Politik herangeführt werden könnten. An die wahre Politik und die Erkenntnis, dass das grundlegende Problem (der Feind) hinter allem das kapitalistische System war.
»Ihr würdet also alles, das ganze leichte, schöne Leben, dafür aufgeben?«, fragte ich noch einmal.
Theoretisch klang das mit der Revolution ja bestens. Toll. Aber selbst der dümmste Straßenbengel musste doch sehen, dass das alles praktische Tücken hatte.
»Da ist nicht so viel aufzugeben, wie du denkst, Martin«, sagte Claire. »Es gibt nur zwei Arten reiche Leute, glaub mir, die dumpfen Langweiler und die dumpfen widerlichen Langweiler. Da bin ich lieber mit Genossen zusammen, die etwas Vernünftiges mit ihrem Leben anzufangen wissen.«
Sie bat mich um den Wein, und ich gab ihn ihr. Sie trank, reichte Nigel die Masche und hüpfte auch schon über einen gefällten Baumstamm.
Das war typisch Claire, In der einer Sekunde noch todernst, und in der nächsten ausgelassen wie ein kleines Mädchen.
»Im Übrigen«, sagte sie und schnappte nach Luft, »hat meine Familie mich noch nicht verstoßen, und meinen MG habe ich auch noch, oder? Auf meinen kleinen Renner könnte ich nie verzichten, In meinem tiefsten Innern bin ich immer noch eine Partvmaus.«
13
Im Zentrum von Crowcross gab es drei leicht sichtbare Überwachungskameras.
Die eine hing im Hof der Tankstelle mit angeschlossenem Laden. Die beiden anderen waren auf den Parkplatz des »Crowcross Arms« gerichtet. Nach Darstellung des Wirts John Ewing hatte der Gemeinderat im Jahr zuvor
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