Die Toten von Crowcross
Bett lag und schlief.
Auch erinnere ich mich nicht an viele Männer. Es war nicht wie bei anderen Kindern, die ich kannte und die immer irgendeinen »Onkel« hatten, an den sie sich gewöhnen mussten. Vielleicht hatte Mum einfach von Männern die Nase voll, nachdem mein Vater abgehauen war. An einen Mann erinnere ich mich aber doch. Tom hieß er. Wie weiter, ist mir entfallen. Wenn ich es überhaupt je gewusst habe. Er war LKW-Fahrer. Fernfahrer. Ein großer, netter Kerl, der viel lachte. Einmal im September nahm er uns für ein langes Wochenende mit nach Blackpool, damit wir die Lichter sahen. Wir wohnten in einem richtigen Hotel, nicht in irgendeiner schäbigen Pension, und ich hatte mein eigenes Zimmer. Wenigstens habe ich diese eine glückliche Erinnerung im Kopf, gut und sicher aufbewahrt. Dostojewski erklärt in den Brüdern Karamasow , dass einen eine einzige gute Erinnerung aus der Kindheit vor dem Bösen bewahren kann. Dostojewski habe ich im Gefängnis gelesen . Viele Lebenslängliche tun das, hat dieser große Russe doch gewusst, was es heißt, eingesperrt zu sein. Er ist schon in jungen Jahren mit der Geheimpolizei des Zaren aneinandergeraten und wurde in ein sibirisches Arbeitslager geschickt (und Sie haben gedacht, die Kommunisten hätten die Gulags erfunden: Falsch gedacht, mein Freund).
Es war nicht so sehr, dass ich glücklich war (wobei, welcher Zehnjährige, der einen Hotdog kauend am Big Dipper ansteht, der großen, alten Achterbahn am Pleasure Beach, wäre das nicht?), nein, die Erinnerung, die mir im Kopf herumgeht, hat mir ihr zu tun, meiner Mum. Sie strahlte an diesem Wochenende. Lachte, war voller Leben und Wärme, frei von Sorgen. Tom blieb natürlich nicht lange. Er kam seltener und seltener zu Besuch und dann gar nicht mehr. Eines Sonntagmorgens, als sie nicht arbeiten musste, bin ich zu ihr hineingeschlichen. Ich hatte ihr eine Tasse Tee gekocht. Keinen sehr guten Tee, wie ein Kind ihn eben hinbekommt, nicht annähernd heiß genug und viel zu schwach. Sie war schon auf, was mich überraschte, und saß in ihrem Morgenmantel vor dem Spiegel. Tränen rannen ihr übers Gesicht. In der Hand hielt sie die zerknitterten Seiten eines Briefes, unbeholfene Sätze auf billigen, blauen Blättern von einem Notizblock.
Es traf sie auch tief, als ich ging. Wie tief, ist mir erst viel später klar geworden . Damals wusste ich nur, dass Woodlands für mich ebenso wenig bereit hielt wie Crowby. Das erste Mal lief ich davon, als ich sechzehn war, ein paar Monate nach meinem Geburtstag. Das hat ihr geholfen ế In den Augen des Gesetzes war ich fast ein Erwachsener und nicht mehr schulpflichtig. Also gab es kein Problem mit dem Sozialamt, das ihr im Nacken hing. Die Schule ging mir natürlich ab, das ist so. Das habe ich aber erst später begriffen. Ich mag ein naiver, dummer Junge gewesen sein, aber ich bin nicht dumm. Ich habe im Gefängnis zwei super Abschlüsse gemacht und sogar mit einer Magisterarbeit angefangen. Aber an der Gesamtschule North Crowby haben sie nichts Besonderes in mir gesehen, nein, es schien sie nicht mal zu interessieren, ob meine Anwesenheit, nun, fruchtbar war. Ich machte keinen Ärger, warum mich also überhaupt beachten? Wenn ich denn mal in die Schule ging, saß ich ganz hinten und döste mit offenen Augen vor mich hin.
Das erste Mal lief nicht so gut. Ich trampte nach Anglesey, was ich mir mehr oder weniger zufällig ausgesucht hatte. Ich hatte auf eine Karte geschaut und den Namen interessant gefunden. Dort konnte ich in einer Hotelküche arbeiten, aber der Lohn war mies, und die Zimmer, in denen wir schliefen, waren ratten- und kakerlakenverseucht. Im Vergleich dazu erschien mir das Alexander-Pope-Haus als ein Palast. Also kam ich kleinlaut wieder nach Hause, bezog eine Weile Sozialhilfe und hing herum. Ich erinnere mich, dass ich dann irgendwann versucht habe, in die Army zu kommen. Warum, kann ich nicht sagen. Vielleicht dachte ich, dass ich dort wenigstens ein paar Kumpel finden würde. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich war nicht der wunderliche Einzelgänger, der von allen ausgelacht und hochgenommen wird. Ich hatte nur nie meinen Platz gefunden. Wie sich heraus stell te, konnte die Army mich aber, anders als Andy, nicht gebrauchen. Ich wurde aus Gesundheitsgründen abgelehnt. Ich sei Asthmatiker, hieß es, was mir neu war. Aber vielleicht war das auch nur eine diplomatische Art, mir zu sagen, dass ich auch da mit meiner Nase nicht hineinpasste. Irgendwann wurde
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