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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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weinen.
    Morse stand auf und ging durch dieselbe Tür, durch die vor einer Weile Lewis verschwunden war. Der Sergeant saß auf einer Bank am Ende des Korridors und blickte erfreut von seiner Zeitung hoch, als Morse auf ihn zukam. Er hätte das Kreuzworträtsel sowieso nicht herausbekommen, aber jetzt brauchte er sich seine Niederlage wenigstens nicht einzugestehen.
     
    Stockend erzählte Edward, wie es zu dem Brief an Richards gekommen war. Es war eine miese kleine Geschichte. Er hatte, als er eine Woche vor ihrem Tod zu Anne Scott zur Nachhilfestunde gekommen war, eine Weile auf sie warten müssen, weil sie im Bett gewesen war, die Zeit verschlafen hatte und sich noch anziehen mußte. Da hatte er die Gelegenheit benutzt, um sich in ihrem Arbeitszimmer ein wenig umzusehen, und unter einem Stapel Bücher auf ihrem Schreibtisch den Brief entdeckt. Er war schon mit einer Adresse versehen, auch frankiert, aber noch nicht zugeklebt. Daß der Empfänger ein Mann war, hatte ihn neugierig gemacht, und so hatte er den Brief herausgezogen und gelesen. Es war ein einziger Notschrei. Anne Scott bat diesen Charles Richards um Unterstützung. Sie schrieb, daß sie Geld brauchte, daß sie sich sicher sei, ein Kind zu erwarten. Nur er könne der Vater sein – er sei seit zwei Jahren überhaupt der erste Mann, mit dem sie wieder geschlafen habe. Sie flehte ihn an, sich mit ihr zu treffen, und zwar möglichst schnell, es lasse sich doch sicher einrichten, wenn er nur wolle, er könne ihr diese Bitte doch eigentlich nicht abschlagen nach all den Jahren, die sie sich gekannt und in denen sie sich soviel bedeutet hätten. Vor kurzem habe sie noch einmal alle seine Briefe gelesen und die hätten ihr Hoffnung gegeben, daß er sie jetzt nicht im Stich lassen werde, auch wenn er nun nicht mehr ihr Geliebter, sondern nur noch ein Freund sei. Er habe immer gewollt, daß sie diese Briefe vernichte – sie sei dazu bereit unter der Bedingung, daß er ihr jetzt beistehe. Sie wolle ihn nicht unter Druck setzen – er müsse wissen, daß das nicht ihre Art sei –, daran könne er sehen, wie verzweifelt sie sei.
    Das sei nach seiner Erinnerung der Inhalt des Briefes gewesen. Nach dem Lesen habe er ihn schnell in den Umschlag zurückgesteckt und wieder unter den Bücherstapel gelegt, denn er habe Miss Scott kommen hören. Am Abend hatte er seinem Bruder von dem Brief erzählt. Der habe immer damit angegeben, daß Anne Scott mit ihm geschlafen hätte, und er, Edward, sei immer furchtbar neidisch und eifersüchtig gewesen und habe sich als der dumme kleine Bruder gefühlt. Da habe er ihm endlich einmal beweisen können, daß er die ganze Zeit gelogen hatte. Er habe das richtig genossen. Michael habe zwar versucht, sich rauszureden: das sei doch klar, daß Anne Scott nicht zugeben dürfe, daß sie auch mit einem anderen geschlafen habe, wenn sie von dem Typen Geld haben wolle, aber er habe ihm nicht geglaubt. Ein paar Tage später hatten sie aus der Zeitung erfahren, daß Anne Scott Selbstmord begangen habe. Und am selben Abend, es sei ein Samstag gewesen, habe Michael ihn gefragt, ob er sich noch an den Namen und die Anschrift des Mannes erinnere, an den Anne Scott geschrieben hatte. Dann haben sie sich zusammengesetzt und den Brief entworfen. Er habe es witzig und spannend gefunden. Bei Michael sei das wohl etwas anderes gewesen – ihm sei sehr an dem Geld gelegen gewesen; durch seine Drogensucht sei er ständig auf der Jagd nach neuen Geldquellen. Sie hatten den Brief auch abgeschickt; doch am nächsten Tag war Michael dann zusammengebrochen – er hatte eine Überdosis genommen – und war ins Krankenhaus gebracht worden. Allein, ohne Michael, hatte er die ganze Sache plötzlich gar nicht mehr komisch gefunden und nichts weiter unternommen – eigentlich hätte er oder Michael bei Richards anrufen wollen, um einen Termin für die Geldübergabe auszumachen. Jetzt im nachhinein schäme er sich, daß er sich überhaupt auf so etwas eingelassen habe. Es tue ihm wirklich sehr leid, er würde dergleichen nie wieder machen – ganz sicher nicht.
    Während Lewis noch emsig die letzten Sätze niederschrieb, ging Morse den Korridor hinunter zum Zimmer von Michael Murdoch, klopfte an die Tür und trat ein. Michael lag auf dem Rücken; auf dem rechten Auge war ein dicker Verband, das linke Auge, noch immer völlig verschwollen, starrte gelangweilt zur Decke.
    »Ich habe mich eben mit deinem Bruder unterhalten. Er hat zugegeben, daß ihr beide einen

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