Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
Erpresserbrief an Charles Richards geschrieben habt. Stimmt das, daß du auch dabei warst?«
    »Wenn Ted das sagt, wird es wohl so sein. Ich hab’s vergessen. An vieles vor der Zeit im Krankenhaus kann ich mich nur noch ganz schwach erinnern.«
    »Aber wer Anne Scott war, weißt du noch?«
    Der Junge nickte desinteressiert.
    »Und du weißt auch noch, daß ihr miteinander geschlafen habt?«
    Aus Michaels blutunterlaufenem Auge traf Morse ein Blick, in dem Hohn und zugleich Triumph zu liegen schienen.
    »Eine tolle Frau, was?«
    »Das kann man wohl sagen. Klasse Figur. Sah auch sonst super aus«, Michael sprach ganz im Tonfall eines alten Genießers.
    »Sie hat sich also … sie hat sich also ausgezogen?«
    »Na klar! Was denn sonst?«
    Morse nickte. »Hat dich das riesige Muttermal auf ihrer Hüfte nicht gestört? Das sah doch sehr abstoßend aus.«
    »Ich hab woanders hingeschaut, wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagte der Junge mit einem anzüglichen Grinsen.
    »Aber es ist dir aufgefallen!«
    »Ja klar, aber …«
    »Was für ein dreckiger kleiner Lügner du bist, Murdoch.«
    Morse sprach leise, aber seine Stimme war von einer gefährlichen Schärfe. »Sie hatte weder ein Muttermal noch sonst einen Makel. Und sie war großzügig und warmherzig. Jede andere hätte so ein Bürschchen wie dich gleich wieder auf die Straße gesetzt, aber sie hat sich mit dir abgemüht! Du bist ein Arschloch, Murdoch, daß du’s nur weißt!«
    Der Junge verzog mürrisch und ein bißchen beschämt den Mund, sagte aber nichts. Morse drehte sich abrupt um und ging hinaus. An einem der Fenster im Flur blieb er ein paar Minuten stehen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Im Grunde war er selbst genauso ein dreckiger kleiner Lügner wie der Junge da drin. Er hatte Anne Scott nur ein einzigesmal gesehen – auf einer Party, und da war sie angezogen gewesen –, er wußte nicht, ob sie einen schönen Körper hatte. Er hatte es sich nur immer vorgestellt.
     
    Zur selben Zeit, als Morse und Lewis sich in der Augenabteilung des Radcliffe aufhielten, meldete der Lautsprecher auf dem Flughafen Gatwick die planmäßige Ankunft der Maschine aus Madrid. Als die ersten der gerade gelandeten Fluggäste durch die Sperre kamen, lösten sich aus der Gruppe der Wartenden zwei unauffällige Herren, gingen auf einen der Passagiere, einen gutgekleideten Mann in mittleren Jahren, zu und nahmen ihn in die Mitte.
    »Mr Conrad Richards?«
    Er nickte. Um seinen Mund lag ein kleines, resigniertes Lächeln.
    »Wir verhaften Sie wegen Verdacht des Mordes an Mr George Jackson, Canal Reach Nr. 10, Jericho …«
    Das alles war so schnell und unauffällig vor sich gegangen, daß keiner der Umstehenden etwas davon mitbekommen hatte, nur der bärtige Zöllner, vor dessen Schalter sich alles abgespielt hatte, hatte begriffen, was geschah, es interessierte ihn aber nicht sonderlich. Er wollte gerade einen weiteren Koffer mit Kreide markieren, als der Name Jericho ihn aufhorchen ließ. Der kam ihm doch irgendwie bekannt vor! War das nicht so ein Ort im Heiligen Land …? Natürlich – die Trompeten von Jericho! Und gab es da nicht noch so eine Geschichte, die in Jericho spielte … Aber sie fiel ihm nicht mehr ein …
     

Kapitel Siebenunddreißig
     
    Noch niemals sah ich einen Mann,
    Der schaute so gebannt
    Hinauf zu dem blauen, winzigen Zelt,
    Vom Häftling ›Himmel‹ genannt …
    Oscar Wilde,
    Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading
     
    Morse war noch am selben Abend, als er gegen Viertel vor zehn ins Präsidium zurückgekehrt war, von Richards’ Verhaftung unterrichtet worden. Die Dinge hatten sich schneller entwickelt, als er erwartet hatte, aber das war ihm nur recht, und er sandte umgehend ein Telegramm an Interpol, um sich für ihre Hilfe zu bedanken. Da das Präsidium mit Zellen schlecht ausgestattet war, hatte er gleich von vornherein angeordnet, daß Richards im Falle seiner Festnahme auf das Revier Mitte in der St. Aldate’s Street gebracht werden solle.
    Am nächsten Morgen ließ er sich mit seinem Besuch bei Richards Zeit. Es schadete gar nichts, wenn er noch ein wenig länger warten mußte; das würde seiner Gesprächsbereitschaft nur förderlich sein. Als Morse schließlich auf dem Revier eintraf, war es schon fast zehn.
    »Ich möchte erst mal allein mit ihm sprechen«, sagte er zu Lewis.
    Dieser nickte. »Ist gut, Sir. Dann gehe ich solange einen Kaffee trinken.«
    Richards saß auf einem schmalen Bett und las den Daily Express. Als Morse

Weitere Kostenlose Bücher