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Die Toten Von Jericho

Die Toten Von Jericho

Titel: Die Toten Von Jericho Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Höhe, sprang aus dem Bett, raste nach unten und blätterte mit ungeschickten Fingern fieberhaft im Telefonbuch, bis er beim Buchstaben ›M‹ angelangt war. Und tatsächlich, da stand es, schwarz auf weiß: Morse, E., The Flats 45, Banbury Road.
    ›E. M.‹! Sie war also mit Morse verabredet gewesen! Nun mal langsam, ermahnte er sich. Morse war nicht der einzige mit diesen Initialen, es gab bestimmt noch tausend andere. Andererseits – Morse war am Nachmittag da gewesen; daran bestand kein Zweifel. Das erklärte auch die Fragen nach der Tür und dem Licht und ob sie etwas entfernt hätten. Ja, jetzt auf einmal ergaben sie einen Sinn. Und wenn es gar nicht Jackson gewesen war, der sie gefunden hatte, sondern Morse? Aber warum hatte er es dann nicht gemeldet? Hatte er Angst gehabt, sich irgendwie zu kompromittieren, wenn die Kollegen ihn am Ort des Selbstmords angetroffen hätten? Hatte er vorgehabt, irgendwann später noch anzurufen? Walters ging wieder nach oben und legte sich ins Bett. Aber er konnte nicht einschlafen. Er hatte das Gefühl, als seien seine Augäpfel in ständiger Bewegung, aber seine Versuche, sie dadurch, daß er einen festen Punkt fixierte, zur Ruhe zu bringen, scheiterten. Erst in den frühen Morgenstunden fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder hochschreckte mit dem Gedanken, wie um alles in der Welt er das bloß Bell beibringen sollte.
     

Kapitel Acht
     
    Der Mann, der mehr Leben durchlebt als eins,
    Schaut mehrmals dem Tod ins Gesicht.
    Oscar Wilde,
    Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading
     
    Auch Charles Richards fand in dieser Nacht wenig Schlaf. Doch seine Unruhe war qualvoller als die von Walters und auch nicht nur vorübergehender Natur. Er fürchtete um den Bestand seiner Ehe, fürchtete, daß Celia ihn verlassen könne – und all das nur, weil er im entscheidenden Moment falsch reagiert hatte. Wie hatte ihm das nur passieren können, bei seiner Erfahrung im Täuschen und Verheimlichen! Warum bloß hatte er, als Celia das lange blonde Haar auf seinem Jackett entdeckt hatte, nicht einfach die Achseln gezuckt, nonchalant und unbekümmert, statt sich in diese komplizierten und unglaubwürdigen Erklärungen zu verrennen. Er sah ihr Gesicht vor sich, das ihm, ungeachtet ihres angestrengten Bemühens um Selbstbeherrschung, verriet, daß sie zornig war und eifersüchtig, daß sie sich von ihm im Stich gelassen und gedemütigt fühlte, vor allem aber, daß sie sich in ohnmächtigem Schmerz wieder einmal ihrer eigenen Grenze bewußt geworden war. Und das zu sehen tat ihm weh, mehr weh, als er je für möglich gehalten hätte. Vielleicht hatte sie schon früher manchmal etwas geahnt; in letzter Zeit hatte sie sicher einen Verdacht gehabt – doch seit gestern wußte sie nun endgültig Bescheid; daran konnte kein Zweifel bestehen. Während er sich unruhig von einer Seite auf die andere warf, fragte er sich, wie er jemals mit diesem Gefühl von Schuld umgehen sollte, das er empfand.
    Sein Frühstück am nächsten Morgen bestand nur aus einer Tasse Kaffee und einer Zigarette. Allein am Küchentisch sitzend, spürte er eine nie gekannte Hilflosigkeit, die ihn erschreckte. Er hatte rasende Kopfschmerzen, und als er die Zeitung aufschlug in der Hoffnung, seine eigenen Sorgen würden sich angesichts der Meldungen über Hungerkatastrophen, Erdbeben und Seuchen relativieren, verschwammen die Zeilen vor seinen Augen, und er mußte sie weglegen. So war er wieder bei sich und seinen Problemen und zog eine bittere Bilanz: Er verlor seit einigen Jahren allmählich die Haare, und er verlor an Vitalität. Doch etwas viel Wesentlicheres, nämlich seine Integrität als Mensch und Mann hatte er schon lange davor eingebüßt. Und nun war abzusehen, daß er auch noch seine Frau verlieren würde. Er trank zuviel, kam von den Zigaretten nicht los, und seine sexuellen Wünsche trieben ihn immer wieder aufs neue in die Arme irgendwelcher Frauen … O Gott, wie er sich für all das haßte.
    Samstags war es meistens sehr ruhig in der Firma; doch gab es immer irgendwelche Briefe zu schreiben, es konnte ein wichtiger Anruf kommen, und manchmal hatte einer der Angestellten eine Frage, so daß Charles es sich schon seit Jahren zur Gewohnheit gemacht hatte, auch an diesem Tag im Büro zu erscheinen. Seine Sekretärin hatte ebenfalls anwesend zu sein, und er erwartete auch von seinem Bruder Conrad, daß er sich wenigstens kurz blicken ließ, so daß sie, bevor sie zusammen ihren gewohnten mittäglichen

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