Die Toten Von Jericho
zwei nach oben.
Kapitel Neun
Die schlimmste Art Mord
ist der Selbstmord,
denn er läßt keine Chance
mehr für Reue.
John Collins
Der Termin der gerichtlichen Untersuchung des Selbstmords war auf Dienstag nächster Woche angesetzt worden. Bell hatte das Wochenende über alle Hände voll damit zu tun, die für den bevorstehenden Besuch eines hohen chinesischen Politikers in Oxfordshire angeordneten umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen zu organisieren. Abgesehen von ein paar geknurrten Ermahnungen in Walters’ Richtung, er solle endlich aufhören, sich den Kopf zu zerbrechen, hatte er sich nicht mehr zu der Sache geäußert. Für ihn war sie abgeschlossen. Walters hatte ihn gleich am nächsten Morgen über alles informiert, was er erfahren hatte, und auch die Morse betreffenden Einzelheiten nicht verschwiegen. Doch Bell hatte das alles nicht weiter interessiert; er hatte auch keinerlei Überraschung gezeigt, wohl auch tatsächlich keine empfunden. Walters’ Aussage am Dienstag vor der Leichenschaukommission war gründlich und detailliert. Er beschrieb zunächst das Auffinden der Toten (einschließlich der ein, zwei Merkwürdigkeiten), um dann von seinen eigenen Ermittlungen zu berichten. Nachdem er fertig war, stellte ihm der Coroner in seinem üblichen, etwas nöligen Ton noch zwei Fragen, die Walters, der seine anfängliche Nervosität inzwischen überwunden hatte, klar und eindeutig beantwortete.
»Ihrer Meinung nach, Officer, handelt es sich bei dem hier zu verhandelnden Todesfall eindeutig um Selbstmord?«
»Ja, Sir.«
»Und es liegen keinerlei Anzeichen für Fremdverschulden vor?«
»Nein, Sir.«
Der einzige andere Zeuge war der bucklige Pathologe, der auch diesmal die Erwartung all derer, die möglichst schnell nach Hause wollten, nicht enttäuschte und die Ergebnisse seiner Autopsie mit einer Wahnsinnsgeschwindigkeit herunterratterte. Zuhörer mit einwandfreiem Hörvermögen und schneller Auffassungsgabe erfuhren, daß die Tote vermutlich irgendwann zwischen sieben und neun Uhr dreißig am Morgen des Tages, an dem man sie fand, gestorben war; daß sie also bereits elf Stunden tot gewesen war, als man sie abnahm. Sie habe sich in einem guten körperlichen Zustand befunden und sei seit acht, höchstens zehn Wochen schwanger gewesen. Schwanger. Das Wort stand einen Moment lang im Raum; es trat eine Pause ein, bis die Verhandlung, genauso abrupt, wie sie stehengeblieben war, plötzlich wieder in Gang kam. Bell starrte vor sich auf die Dielenbretter und scharrte leise mit den Füßen.
Der Coroner hatte diesmal nur eine Frage.
»Gibt es Ihrer Meinung nach irgendwelche Zweifel daran, daß die Tote Selbstmord begangen hat?«
»Darüber zu befinden ist Sache der Kommission.«
Bell schüttelte leicht den Kopf und lächelte nachsichtig. Seit nunmehr zwanzig Jahren gab der bucklige Mediziner auf diese Frage immer dieselbe Antwort. Nur ein einziges Mal in all der Zeit hatte es eine Nachfrage gegeben, und er war gezwungen gewesen, den Satz näher zu erläutern. Der jetzige Coroner hatte sein Amt damals gerade erst neu angetreten und ihn noch nicht gekannt. Bell war inzwischen manchmal schon fast überrascht, daß er überhaupt zu irgendwelchen verbindlichen Äußerungen bereit war; bei seiner schon krankhaften Furcht, sich festzulegen, mußte ihn das jedesmal große Überwindung kosten. Der Eindruck trog nicht; es fiel ihm tatsächlich von Jahr zu Jahr schwerer. Naturwissenschaftler, der er war, stand er schnellen, einfachen Definitionen und Erklärungen mehr als skeptisch gegenüber. Die Tätigkeit der Polizei konnte er deswegen nur mit einer gewissen herablassenden Geringschätzung betrachten. Es gab nur einen Beamten, der ihm Respekt abnötigte, und das war Morse, der ihm bei einem Glas Bier einmal unmißverständlich zu verstehen gegeben hatte, welch tiefe Verachtung er seinerseits für die Gerichtsmediziner mit ihren pingeligen, zögerlichen Beurteilungen empfand.
Die Entscheidung der Leichenschaukommission lautete auf ›Tod durch Selbstmord‹. Der Fall Anne Scott galt damit offiziell als abgeschlossen.
Noch am selben Abend rief Morse den buckligen Pathologen zu Hause an.
»Hast du Lust, mit in den Pub zu kommen, Max?«
»Nein.«
»Wieso nicht? Bist du auf einmal Abstinenzler geworden?«
»Nein, aber ich trinke seit einiger Zeit zu Hause. Das ist billiger.«
»Und außerdem gibt es keine Polizeistunde.«
»Ja, das ist der zweite Vorteil.«
»Und wann fängst du gewöhnlich so
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