Die Toten Von Jericho
nicht stimmen mußten. Dann war Anne gegangen, und sie hatte allmählich ihre innere Ruhe wiedergefunden. Ob nun etwas zwischen den beiden gewesen sein mochte oder nicht, nun war es vorbei. Bis vor ein paar Wochen die vermeintliche Sicherheit mit einem Schlag wieder zerstört worden war. Charles war an dem Tag zu Hause geblieben, weil er sich fiebrig fühlte, und sie war nach Abingdon zum Verlag gefahren, um mit ihrem Schwager Conrad, dessen Zimmer ein Stockwerk über dem von Charles lag, zu reden. Sie war jedoch zuerst in Charles’ Büro gegangen. Der Brief mußte gerade an dem Tag eingetroffen sein und lag offen auf dem Schreibtisch, gleich neben der Kristallkugel, die er als Briefbeschwerer benutzte. Sie hatte die Schrift sofort erkannt. Oben in der linken Ecke des Umschlags stand der Vermerk Persönlich und vertraulich. Da wußte sie Bescheid. Sie hatte, ohne zu überlegen, den Brief an sich genommen, sich draußen in den Wagen gesetzt und ihn gelesen. Und während sie las, wurde ihr klar, daß die beiden sich, seit der Verlag vor einigen Wochen nach Abingdon umgezogen war, regelmäßig getroffen hatten. In ihrem Brief bat Anne Charles um ein erneutes Wiedersehen – es sei dringend! Sie befinde sich in großen Schwierigkeiten, und er sei der einzige, an den sie sich wenden könne. Sie erwähnte, daß sie Geld brauche, vor allem aber müsse sie ihn so schnell wie möglich sehen! Sie habe alle seine Briefe aufgehoben und sei, so deutete sie an, falls er ihrem Wunsch nicht nachkomme, verzweifelt genug, sie zu benutzen, um ihm damit zu schaden, Sie wisse, daß das einer Erpressung gleichkomme und schäme sich deswegen, ihre Situation lasse ihr jedoch keine andere Wahl. Nachdem Celia den Brief zu Ende gelesen hatte, war sie nach Hause gefahren und hatte ihn dort verbrannt. Ihr Entschluß stand fest: sie würde Anne Scott aufsuchen. Und bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit hatte sie ihren Entschluß in die Tat umgesetzt. Sie hatte den Rolls nehmen müssen, weil Charles wie so oft mit ihrem Mini zur Arbeit gefahren war. In den winkligen Straßen Jerichos war es schwer gewesen, einen Parkplatz zu finden, und so hatte sie den Wagen schließlich einfach im Halteverbot abgestellt und gehofft, daß das Regenwetter den Eifer der Politessen vielleicht dämpfen würde und sie ohne Strafzettel davonkäme. Sie war die Sackgasse hinunter zu Anne Scotts Haus gegangen und hatte geklopft, aber es hatte niemand aufgemacht. Sie hatte prüfend die Klinke heruntergedrückt und festgestellt, daß die Tür offen war. (»Ja, da bin ich ganz sicher, Inspector, da ich keinen Schlüssel hatte, wie hätte ich sonst hineinkommen sollen?«) Drinnen hatte sie nach ihr gerufen, aber alles war still geblieben. Sie hatte sich in dem großen Raum unten kurz umgesehen und war dann die Treppe hinauf in den ersten Stock gestiegen. Dort war sie zufällig geradewegs ins Arbeitszimmer gegangen und hatte, nachdem sie ein paar Minuten gesucht hatte, in einer Schreibtischlade die Briefe entdeckt, von denen Anne gesprochen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie vor lauter Verletztheit so rabiat gewesen, daß sie alle Zweifel und Bedenken hinsichtlich ihres Vorgehens einfach unterdrückt hatte, aber dann war sie da oben auf einmal von Angst gepackt worden. Wenn Anne nun zurückkam … Ihre Furcht vor Entdeckung war jedoch gar nichts gegen den Alptraum der nächsten zwei Minuten. Sie hatte plötzlich gehört, wie unten die Eingangstür geöffnet wurde und eine Männerstimme nach Anne rief. Der Mann war bis an den Fuß der Treppe gekommen, und sie hatte wie versteinert oben gestanden, zitternd, daß er heraufkommen werde. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie eine solche Panik gefühlt!
Und dann war auf einmal alles vorbei gewesen. Der Mann war wieder gegangen, und nachdem sie noch vier oder fünf Minuten abgewartet hatte, hatte sie die Briefe in ihre Handtasche gesteckt und das Haus verlassen. Bei ihrer Rückkehr hatte sie am Wagen das Strafmandat vorgefunden, doch das war, verglichen mit dem, was sie eben durchgemacht hatte, eine Lappalie. Sie hatte einen Scheck ausgestellt (›»C.‹ für ›Celia‹, Inspector!«) und die Sache damit für erledigt gehalten. Charles’ Briefe hatte sie wie zuvor den von Anne verbrannt, allerdings ohne auch nur einen von ihnen gelesen zu haben. Damit konnte Anne Scott nun kein Unheil mehr anrichten! Drei Tage später hatte sie durch Zufall aus der Zeitung von ihrem Selbstmord erfahren und realisiert, daß zu dem
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