Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
aus dem Wagen stiegen.
Sie fasste seinen Arm, als sie zum Gefängnis hinübergingen.
»Ich habe mit einem Freund gesprochen, der in der Haftanstalt arbeitet«, sagte sie. »Er begutachtet psychisch auffällige Gefangene, aber als Sebastián Einzelhaft beantragt hat, wurde er nicht hinzugezogen, obwohl er davon gehört hat. Es gab keinerlei Anzeichen auffälligen Verhaltens, Sebastián war stets freundlich und absolut gutmütig – was natürlich nichts bedeuten muss. Aber mein Freund hat etwas Interessantes gesagt: Alle hatten den Eindruck, dass Sebastián richtig glücklich über seine Einzelhaft war, geradezu erleichtert.«
»Von den anderen Gefangenen getrennt zu sein?«
»Das konnte er nicht sagen. Er meinte nur, er hätte erleichtert gewirkt«, sagte sie. »Ich würde übrigens gern mit Sebastián allein reden. Aber wenn es einen Raum gibt, in dem Sie das Gespräch unbemerkt beobachten können, wäre ich daran interessiert, dass Sie die Sitzung verfolgen.«
Der Direktor empfing sie und veranlasste, dass die Befragung in einer der ›sicheren‹ Zellen durchgeführt wurde, in denen Gefangene mit einer potenziellen Suizidneigung zur Beobachtung untergebracht wurden. Der Raum war mit Videoanlage und Kassettenrekorder ausgestattet, und man brachte zwei Stühle, die in entgegengesetzter Richtung nebeneinander aufgestellt wurden, um das S-förmige Sofa in Alicia Aguados Behandlungszimmer zu ersetzen. Sie nahm mit Blick zur Tür Platz, die geschlossen war, aber ein großes Beobachtungsfenster hatte. Falcón saß draußen.
Zunächst erklärte Alicia Aguado ihre Behandlungsmethode. Sebastián sah sie von der Seite an und lauschte ihren Worten mit der Intensität eines Geliebten. Dann entblößte er sein Handgelenk, und sie legte zwei Finger auf seinen Puls. Er strich mit einer Fingerspitze über ihre beiden Nägel.
»Ich bin froh, dass Sie zurückgekommen sind«, sagte er, »aber ich weiß nicht, was Sie hier machen.«
»Es ist nicht unüblich, dass Gefangene, die eine tragische Nachricht zu verarbeiten hatten, psychologisch begutachtet werden.«
»Ich dachte nicht, dass ich Anlass zur Besorgnis gegeben habe. Ich war ziemlich aufgewühlt, das stimmt. Aber jetzt bin ich vollkommen ruhig.«
»Es war eine sehr heftige Reaktion, und Sie sitzen in Einzelhaft. Die Behörden machen sich Sorgen über mögliche Konsequenzen auf Ihren Geisteszustand.«
»Wie sind Sie erblindet?«, fragte er. »Ich glaube nicht, dass Sie von Geburt an blind waren, oder?«
»Nein, ich habe eine Krankheit, die sich Retinispigmentosa nennt.«
»Ich kannte an der Kunstakademie ein Mädchen, das die gleiche Krankheit hatte«, sagte er. »Sie hat gemalt und gemalt und gemalt wie verrückt, um alle Farben auf Leinwand zu bannen, bevor sie ihre Sehkraft verlor, weil sie danach nur noch schwarz-weiß arbeiten konnte. Mir gefällt die Vorstellungen, alle Farben in die frühen Jahre zu packen, um sein Leben anschließend zu vereinfachen.«
»Interessierst du dich immer noch für Kunst?«
»Ich will kein Künstler mehr werden, aber ich betrachte gerne Kunstwerke.«
»Ich habe gehört, dass du sehr gut warst.«
»Von wem?«
»Von deinem Onkel«, sagte sie, runzelte die Stirn und verrückte die Finger an seinem Handgelenk.
»Mein Onkel weiß nichts über Kunst. Sein ästhetisches Empfinden ist gleich null. Wenn er wirklich denken würde, dass meine Arbeiten gut sind, würde ich mir ernsthaft Sorgen machen. Er ist der Typ, der Betonlöwen auf seine Torpfosten setzt. Er hängt grässliche Landschaften in grellen Farben an die Wand und gibt sein Geld für teure Stereoanlagen aus, obwohl er keinen Musikgeschmack hat. Er findet, dass Julio Iglesias heilig gesprochen werden und Placido Domingo ein paar anständige Lieder lernen sollte. Sein Gehör ist so sensibel, dass er den kleinsten Lautsprecherdefekt wahrnimmt, aber er kann keine einzige Note hören«, sagte Sebastián, ohne den Blick von Alicia Aguado zu wenden. »Ich wüsste gern Ihren Vornahmen, Dr. Aguado.«
»Alicia«, sagte sie.
»Wie ist es, immer im Dunkeln zu sein, Alicia?«, fragte er. »Ich bin gerne im Dunkeln. Ich hatte ein Zimmer, in dem ich alles Licht und allen Lärm aussperren konnte, und dort habe ich mit einer Schlafmaske auf dem Bett gelegen. Sie war von innen mit Samt gefüttert und lag warm und sanft auf meinen Augen wie eine Katze. Aber wie ist es, keine Wahl zu haben? Stets im Dunkeln zu leben ohne Ausweg ins Licht? Ich glaube, es würde mir gefallen.«
»Warum?«,
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