Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
fragte Alicia. »Es macht das Leben sehr kompliziert.«
»Nein, nein, Alicia, das sehe ich anders. Es vereinfacht die Dinge. Wir werden mit zu vielen Bildern, Ideen, Worten, Gedanken, Geschmacksrichtungen und Beschaffenheiten bombardiert. Denken Sie sich einen der Sinne weg, und überlegen Sie, wie viel Zeit das freisetzt. Man kann sich auf Klänge konzentrieren. Das Tasten wird aufregend, weil die Finger sich nie mit dem langweilen müssen, was der Verstand ihnen als Erwartung vorgibt. Schmecken wird ein Abenteuer. Nur der Geruch, das köstliche Aroma des Essens, gibt einen Hinweis. Ich beneide Sie, weil Sie das Leben in seiner ganzen Fülle wieder entdecken können.«
»Wie kannst du mich nach dem, was du dir selbst angetan hast, beneiden?«, fragte sie.
»Was habe ich mir denn angetan?«
»Du hast dich von der Welt ausgeschlossen. Du hast beschlossen, dass du nichts von dem Leben in all seiner Fülle spüren willst.«
»Macht man sich nach dem Tod meines Vaters wirklich Sorgen um mich?«, fragte er.
» Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Ja, das merke ich«, sagte er. »Und das meine ich ja: Wenn ich blind wäre, würde ich Ihre Schönheit erkennen, und die Fähigkeit zu sehen würde die Reinheit dieses Gefühls nur stören.«
»Du warst sehr aufgewühlt über den Tod deines Vaters, trotzdem hast du den Brief, den er dir geschrieben hat, gar nicht beachtet.«
»Es ist nicht so ungewöhnlich, zwei widersprüchliche Gefühle gleichzeitig zu hegen. Ich habe ihn geliebt, und ich habe ihn gehasst.«
»Warum hast du ihn geliebt?«
»Weil er es brauchte. Er hat jede Menge Bewunderung bekommen, aber fast keine Liebe. Er war von der Bewunderung abhängig und hat sie mit Liebe verwechselt. Wenn er nicht bewundert wurde, fühlte er sich ungeliebt. Also habe ich ihn geliebt, weil er diese Liebe brauchte.«
»Und warum hast du ihn gehasst?«
»Weil er mich nicht zurücklieben konnte. Er hat mich umarmt und geküsst und dann beiseite gestellt wie eine Puppe, um nach dem zu suchen, was er für wahre Liebe hielt. Das hat er getan, weil es weniger kompliziert war. Deswegen hatte er auch die Hunde, Pavarotti und Callas: Er mochte dieses unkomplizierte Geben und Nehmen von Liebe.«
»Wir haben mit deinem Cousin Salvador gesprochen.«
»Salvador«, sagte er. »Der Retter, der selbst nicht gerettet werden kann.«
»Oder der Retter, der nicht retten konnte.«
»Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.«
»Denkst du je an deine Mutter?«
»Jeden Tag.«
»Und was denkst du über sie?«
»Ich denke, wie sehr sie missverstanden wurde.«
»Aber du denkst nicht an mütterliche Liebe?«
»Doch, daran denke ich auch, doch wenn ich mich daran erinnere, ist mein nächster Gedanke eben unwillkürlich immer, wie sehr sie missverstanden wurde. Es bleibt im Gedächtnis eines Sohnes haften, wenn er hört, dass seine Mutter als Hure bezeichnet wird. Sie war keine Hure. Sie hat meinen Vater geliebt und bewundert. Er hat das nie erwidert. Und sie hat andere Menschen gefunden, die sie lieben konnte.«
»Du hast dich nicht von ihr verlassen gefühlt?«
»Doch. Ich war erst acht Jahre alt. Aber später habe ich erfahren, dass sie nicht bei meinem Vater bleiben und mich auch nicht mitnehmen konnte, weil er seine Zustimmung verweigert hat. Sie war immer auf Reisen. Ihr Freund war Filmregisseur. Das hat meine Familie mir nicht gesagt. Von ihnen habe ich nur gehört, dass sie eine Hure ist.«
»Wie bist du mit deiner neuen Familie zurechtgekommen, nachdem sie weg war?«
»Welcher neuen Familie?«
»Deinem Onkel und deiner Tante. Du warst oft bei ihnen.«
»Ich habe mehr Zeit bei meinem Vater als bei ihnen verbracht.«
»Aber wie war es, bei ihnen zu leben?«
Falcóns Handy vibrierte. Er ging in den Flur und nahm den Anruf von Ramírez entgegen.
»Das FBI hat jemanden gefunden, der perfekt auf die Beschreibung von Vega passt«, sagte er. »Größe, Alter, Augenfarbe und Blutgruppe stimmen, und er ist Chilene. Sie haben ein Bild geschickt, auf dem er mehr Haare und einen Vollbart hat. Es wurde 1982 aufgenommen, da war er dreißig. Er war beim chilenischen Militär und bei der DINA und wurde zuletzt 1982 gesehen, als er aus einem Zeugenschutzprogramm entwischt ist.«
»Warum wurde er geschützt?«
»Hier steht nur, dass er in einem Prozess wegen Drogenhandels aussagen sollte.«
»Hat das FBI auch einen Namen genannt?«
»Vor dem Zeugenschutzprogramm hieß er Miguel Velasco.«
»Schick die Details an Virgilio Guzmán beim Diario de
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