Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Titel: Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
was er mir angetan hatte. Ich hätte… ich hätte ihn beschützen müssen. Ich hätte, wie Sie sagen, sein älterer Bruder sein müssen. Aber das war ich nicht. Ich war ein Feigling. Und ich habe zugesehen, wie er zerstört wurde.«
    Nach einigen Minuten sickerte die Realität zurück in den Raum. Eine Deckenleuchte surrte. Der Kassettenrekorder klickte.
    »Wann haben Sie Ihren Onkel Pablo zuletzt gesehen?«, fragte Falcón.
    »Am Freitagmorgen, nur für eine halbe Stunde. Er hat mir ein bisschen Geld gegeben. Wir haben geredet. Er hat mich gefragt, ob ich wüsste, warum Sebastián getan hatte, was er getan hat. Ich wusste, was er meinte und was er von mir wollte. Aber ich konnte ihm nicht erzählen, was ich Ihnen gerade erzählt habe. Ich konnte mein Scheitern vor Sebastiáns Vater nicht eingestehen, meinem Onkel, der so viel für mich getan hatte. Ich glaube, er hatte es sich schon selbst zusammengereimt oder die ganze Zeit gewusst und es von seinem eigenen Bruder einfach nicht glauben können. Er wollte von mir nur die endgültige Bestätigung der Tatsachen. Ich hätte es ihm sagen müssen, aber ich konnte nicht. Am Ende unseres Gespräches hat er mich umarmt und auf die Stirn geküsst. Das hatte er nicht mehr getan, seit ich ein kleiner Junge war. Ich habe in sein Hemd geweint. Wir sind zur Wohnungstür gegangen, und er hat mir mit seinen riesigen Händen die Wangen getätschelt und gesagt: ›Urteile nicht zu streng über deinen Vater. Er hatte ein hartes Leben. Er hat die ganze Prügel abbekommen, als wir Kinder waren. Alles. Er war ein verdammt harter kleiner Bursche. Und er hat alles schweigend ertragen!‹«
    »Wissen Sie, warum Sebastián getan hat, was er getan hat?«, fragte Falcón.
    »Ich hatte ihn davor eine ganze Weile nicht gesehen. Wegen der Vereinbarung. Ich wollte mich daran halten. Wenn einem schon mal jemand Vertrauen entgegenbringt, dann will man es nicht vermasseln.«
    »Hat Sebastiáns Verbrechen Sie überrascht?«
    »Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte mir absolut nicht vorstellen, was in den Jahren, in denen ich ihn nicht gesehen hatte, in seinem Kopf vorgegangen ist. Es widersprach allem, was ich über ihn wusste.«
    »Noch zwei Fragen«, sagte Falcón und schaltete den Kassettenrekorder ab, »dann sind wir fertig. Ich habe eine Psychologin gebeten, mit Sebastián zu sprechen, um zu sehen, ob wir die Mauer, die er um sich herum aufgebaut hat, durchbrechen können. Es wäre bestimmt hilfreich, wenn ich ihr das Band unseres Gespräches vorspielen könnte. Sie wird die Einzige sein, die es zu hören bekommt, und vielleicht möchte sie anschließend mit Ihnen reden oder dass Sie Sebastián in irgendeiner Weise helfen.«
    »Kein Problem«, sagte er.
    »Die nächste Frage ist schwieriger«, sagte Falcón. »Ihr Vater hat ein paar sehr böse Dinge getan…«
    »Nein«, sagte Salvador, und sein Gesicht wurde hart wie Stein, »das können Sie nicht von mir verlangen.«

    Auf dem Weg zurück ins Polígono San Pablo saß Falcón mit Salvador auf der Rückbank des Wagens und verabredete eine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen, falls Alicia seine Hilfe brauchte. Er erwähnte auch, dass Pablo ihn in seinem Testament bedacht hatte, und riet ihm, sich mit Ranz Costa in Verbindung zu setzen.
    Am Rande des Viertels setzten sie ihn ab. Ferrera küsste ihn zum Abschied auf beide Wangen. Falcón setzte sich auf den Beifahrersitz, und gemeinsam beobachteten sie, wie er davonging, während sein offener Schnürsenkel gegen seine dünnen, schorfigen Waden schlug.
    »Das mussten Sie nicht tun«, sagte Falcón, als Ferrera den Wagen wendete.
    »Ihn küssen?«, fragte sie. »Das war das Mindeste, was er verdient hat.«
    »Ich meinte, dass Sie ihm Ihre Geschichte nicht erzählen mussten, um ihn zum Reden zu bringen«, sagte er. »Wenn man sich darauf vorbereitet, der Berufung zu folgen und Nonne zu werden, ist das vermutlich ein Prozess – eine Entblößung und Reinigung vor Gott. Polizeiarbeit ist auch eine Berufung, aber es gibt keinen Gott, vor dem man sich entblößen muss.«
    »Inspector Jefes sind zwar keine Götter, aber schon ziemlich weit oben auf der Leiter«, erwiderte sie lächelnd. »Und außerdem war es nur ein Testlauf. Meinem Mann habe ich es immer noch nicht erzählt.«

VIERUNDZWANZIG
    F alcón erwachte aus seiner Siesta und schlug auf den Wecker, bis der verstummte. Die Arme ausgebreitet, lag er keuchend im Dunkeln, als wäre er mit berstender Lunge aus der Tiefe eines Sees aufgetaucht.

Weitere Kostenlose Bücher