Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
richtig, Esteban«, sagte Falcón zu sich. »Denk nicht mal dran.«
Der Geruch ungeklärter Abwässer war Falcón bereits in die Nase gestiegen, als er am Tor gestanden hatte. Ortega drückte auf, und der Gestank, der Falcón jetzt entgegenschlug, ließ ihn würgen. Große Schmeißfliegen brummten bedrohlich wie Bomber durch die Luft. Braune Flecken breiteten sich an den Wänden einer Ecke des Hauses aus, wo ein tiefer Riss in der Fassade zu erkennen war. Die Luft brodelte vom süßlichen Aroma der Verwesung. Ortega tauchte auf der Gartenseite des Hauses auf.
»Ich benutze den Vordereingang nicht«, sagte er, und schüttelte Falcón mit Knochen knackender Kraft die Hand. »Wie Sie sehen, habe ich auf dieser Seite des Hauses ein Problem.«
Pablo Ortegas ganzer Körper drückte sich in seinem Händedruck aus. Er war unnachgiebig und voller Energie. Der Mann hatte langes, dichtes, vollkommen weißes Haar, das bis auf die Schultern seines kragenlosen Hemdes fiel. Sein Schnurrbart war ähnlich beeindruckend, aber vom Rauchen angegilbt. Vom Haaransatz bis zu den Augenbrauen verliefen zwei Falten, die Falcóns Blick unwillkürlich in seine dunkelbraunen Augen zogen.
»Sie sind gerade erst eingezogen, oder?«, fragte Falcón.
»Vor neun Monaten… und sechs Wochen später passiert diese Scheiße. Zwei der Räume des Hauses sind über eine Jauchegrube gebaut, die die Abwässer aller vier Häuser aufnimmt, die Sie hier sehen. Dann haben die Vorbesitzer diese Räume um zwei weitere Zimmer aufstocken lassen, und sechs beschissene Wochen, nachdem sie mir das Haus verkauft hatten, ist wegen des zusätzlichen Gewichts ein Spalt in der Überdachung der Jauchegrube aufgetreten, die Wand hat nachgegeben, und jetzt blubbert die Scheiße von vier Häusern durch den Boden nach oben.«
»Teuer.«
»Ich muss diese Seite des Hauses abreißen, die Jauchegrube reparieren und die Wände verstärken lassen, damit sie das zusätzliche Gewicht tragen, und dann neu aufstocken«, sagte Ortega. »Mein Bruder hat jemanden vorbeigeschickt, der mir erklärt hat, dass ich insgesamt mit zwanzig Millionen rechnen muss oder was immer das in Euros ist.«
»Versichert?«
»Ich bin Künstler. Ich bin nicht dazu gekommen, dass entscheidende Stück Papier zu unterschreiben, bis es zu spät war.«
»Pech.«
»Darin bin ich Experte«, sagte er. »Sie auch, wie ich weiß. Wir sind uns schon einmal begegnet.«
»Ach ja?«
»Ich habe Ihren Vater in dem Haus in der Calle Bailén besucht. Sie waren siebzehn oder achtzehn.«
»Praktisch die gesamte Kulturszene von Sevilla ist irgendwann einmal in diesem Haus gewesen. Es tut mir Leid, aber ich kann mich nicht an Sie erinnern.«
»Üble Sache, das«, sagte Ortega und legte eine Hand auf Falcóns Schulter. »Das hätte ich nie gedacht. Die Medien haben Sie durch die Mühle gedreht. Ich habe natürlich alles gelesen. Konnte nicht widerstehen. Einen Drink?«
Pablo Ortega trug knielange blaue Shorts und schwarze Espadrilles. Er ging mit gespreizten Füßen und hatte gewaltige Wadenmuskeln, die aussahen, als könnten sie ihn durch stundenlange Aufführungen tragen.
Sie betraten das Haus durch die Küche. Falcón nahm im Wohnzimmer Platz, während Ortega Bier und Casera holte. Der Raum war kühl, bis auf das Aroma kalter Zigarrenstumpen geruchlos und mit Möbeln, Gemälden, Büchern, Töpfer- und Glasware sowie Teppichen voll gestopft. An einer Eichentruhe lehnte eine Landschaft von Francisco Falcón. Javier betrachtete sie und empfand nichts.
»Charisma«, erklärte Ortega, als er mit Bier, Oliven und Kapern zurückkam, und wies mit dem Kopf auf das Bild, »ist wie ein Kraftfeld. Man sieht es nicht, und doch hat es die Kraft, die üblichen Wahrnehmungsebenen aufzuheben. Nachdem man der Welt nun offenbart hat, dass der Kaiser keine Kleider hat, ist es leicht, und all die Kunsthistoriker, die Francisco so verachtet hat, schreiben endlos darüber, wie offensichtlich sich die vier Akte von seinem übrigen Werk unterscheiden. Sie delektieren sich an seinem Sturz, sehen aber nicht, dass sie nun nichts anderes tun, als über ihr eigenes Versagen zu schreiben. Charisma. Wir leben in einem derart gewöhnlichen Zustand der Langeweile, dass jeder, der das Leben in irgendeiner Weise aufhellen kann, wie ein Gott behandelt wird.«
»Francisco hat statt ›Charisma‹ immer das Wort ›Genie‹ verwendet«, sagte Falcón.
»Wenn man die Kunst des Charismas beherrscht, muss man nicht einmal ein Genie sein.«
»Das wusste
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