Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
erfahren, dass er eine Beziehung mit Inés hat, über die ich nicht mit ihm sprechen konnte und kann. Jetzt heiraten sie. Ich habe beobachtet, wie sein Stern stetig gestiegen ist, aber von anderen höre ich, dass er dabei von Eitelkeit angetrieben wird…«
»Ich denke, Sie haben etwas ausgelassen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Hat Juez Calderón etwas zu Ihnen gesagt?«
»Nicht zu mir«, sagte Falcón. »Ich kann noch nicht darüber sprechen.«
»Nicht einmal mit Ihrer Psychologin, zu der Sie seit einem Jahr kommen?«
»Nein… noch nicht. Ich bin mir einfach noch nicht sicher«, sagte Falcón. »Es könnte ein längst vergessener momentaner Aussetzer gewesen sein, aber vielleicht liegt auch ein klarerer Vorsatz zugrunde.«
»Jemandem Unrecht zu tun?«
»Nicht direkt Unrecht… obwohl es falsch wäre«, sagte Falcón. »Ich kann Ihnen nur versichern, dass es nichts mit mir zu tun hat.«
Wenig später war die Sitzung zu Ende. Auf dem Weg zur Tür machte Alicia einen Umweg zu einem Schrank, in dem sie nach kurzem Kramen ein Diktiergerät fand, das sie Falcón gab.
»Ich habe nichts dagegen, für Sie über Sebastián Ortega nachzudenken«, sagte sie. »Ich habe einen ruhigen Sommer. Seit ich vollständig erblindet bin, neige ich zu Agoraphobie. Die Vorstellung, mich unter Hunderten von Menschen an einem Strand aufzuhalten, macht mich nervös. Ich bleibe trotz der Hitze in der Stadt. Sprechen Sie alles auf Band, und ich höre es mir an.«
Sie gab ihm das Diktiergerät und mehrere Kassetten. Javier schüttelte ihre kühle weiße Hand; ihre Beziehung war, abgesehen von einigen Ausbrüchen seinerseits zu Beginn der Behandlung, nie über diese Formalität hinausgekommen. Doch diesmal zog sie ihn an sich und küsste ihn auf beide Wangen.
»Gute Nacht, Javier«, sagte sie, als er die Treppe hinunterging. »Und vergessen Sie nicht: Wichtig ist, dass Sie ein guter Mensch sind.«
Falcón trat aus ihrem kühlen Haus in die Hitze der Straße. Beim Gehen tat er, wovon Alicia ihm abgeraten hatte: Er dachte über Inés’ Foto an seiner Pinnwand nach. Ohne sich umzuschauen, überquerte er eine Straße und fand sich unvermittelt vor dem Gebäude der alten Tabakfabrik wieder, das inzwischen zur Universität gehörte. Er war am Gerichtsgebäude, dem Edificio de los Juzgados, vorbeigelaufen, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Also überquerte er die Avenida del Cid und ging zurück durch die Gänge des Palacio de Justicia, als jemand seinen Namen rief. Die Stimme nahm ihm den Atem, und die klackernden Absätze auf dem Pflaster verrieten ihm, noch bevor er sich umdrehte, dass er gleich auf Inés treffen würde.
»Meinen Glückwunsch«, stotterte er.
Sie sah ihn verständnislos an und küsste ihn zur Begrüßung auf die Wange.
»Esteban hat es mir gestern erzählt«, sagte Falcón.
Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, als könnte sie ihre Gedächtnislücke so kaschieren, und verdrehte dann die Augen.
»Tut mir Leid. Daran hab ich gar nicht gedacht«, sagte sie. »Vielen Dank, Javier.«
»Ich freue mich sehr für dich«, sagte er. »Ist es nicht ein bisschen spät zum Arbeiten?«
»Esteban hat gesagt, ich soll ihn um halb zehn hier abholen. Hast du ihn heute schon gesehen?«, fragte sie.
»Er hat unser Treffen auf morgen verschoben.«
»Um diese Tageszeit ist er sonst immer hier. Ich weiß nicht, was…«
»Was hat denn der Wachmann gesagt?«
»Dass er das Gebäude um sechs verlassen hat und noch nicht zurück ist.«
»Hast du es auf seinem Handy probiert?«
»Es ist ausgeschaltet. Er schaltet es neuerdings ständig aus. Es wollen einfach zu viele Leute mit ihm reden«, sagte sie.
»Nun… kann ich dich irgendwohin bringen?«
Inés hinterließ eine Nachricht bei dem Wachmann, und sie stiegen in Falcóns Wagen. Sie fuhren den Paseo de Cristobal Colón hinunter und beschlossen, im El Cairo an der Reyes Católicos ein paar Tapas zu essen.
An der Bar bestellten sie Bier und mit Seehecht gefüllte Piquillo-Paprika. Er fragte sie nach der Hochzeit, und sie antwortete pflichtbewusst, war jedoch nur halb bei der Sache, musterte jedes Gesicht, dass am Fenster vorbeikam. Falcón nippte an seinem Bier und murmelte etwas Aufmunterndes, als sie sich plötzlich zu ihm umdrehte und mit ihren langen, manikürten Nägeln sein Knie packte.
»War alles in Ordnung mit ihm?«, fragte sie. »Bei der Arbeit… meine ich.«
»Ich weiß es nicht. Ich arbeite in einem Fall in Santa Clara mit ihm zusammen, aber erst seit
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