Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
worden, zumindest fehlte kein Stück aus der Inventarliste. Trotz ausführlicher Befragung der Frauen, mit denen er zum Zeitpunkt seines Todes verkehrt hatte, hatte das FBI keinen Tatverdächtigen ermitteln können. Einige prominente Namen waren an die Presse durchgesickert: Helena Valankowa (Modedesignerin), Françoise Lascomb (Model) und Madeleine Krugman. Die beiden Letzteren waren verheiratet.
ELF
Freitag, 26. Juli 2002
A ls Falcón aufwachte, griff er nach Stift und Notizbuch, die er am Bett aufbewahrte, um seine Träume festzuhalten. Diesmal schrieb er:
Vielleicht hat sie von den anderen Frauen erfahren und es getan.
Vielleicht hat er herausgefunden, dass sie eine Affäre hatte, und es getan.
Oder vielleicht war da auch gar nichts.
Er konzentrierte sich eine Weile auf diesen Gedanken, dann schrieb er weiter:
Vielleicht hat er Reza S. getötet und es ihr nicht gesagt.
Vielleicht hat sie Reza S. getötet und es ihm nicht gesagt.
Oder vielleicht gab es eine Komplizenschaft.
Oder vielleicht war da auch gar nichts.
Falcón hatte schlecht geschlafen. Die Akte Ortega lag über das ganze Bett verstreut, ebenso Alicia Aguados Diktiergerät sowie die Kassetten. Nach den Begebenheiten der letzten Tage hatte er nicht einschlafen können, sondern stundenlang die Ortega-Akte gelesen und ein Band besprochen. Bevor er unter die Dusche ging, kontrollierte er den Papierstreifen, den er vor die Tür geklebt hatte. Er war unversehrt, also hatte er zumindest nicht geschlafwandelt. Er ließ den Wasserstrahl für eine Weile auf seinen Kopf prasseln und erkannte eine neue Möglichkeit, woher das Foto von Inés stammen könnte, die sein Gefühl der Frustration ein wenig abmilderte.
Die Hitze auf der Galerie vor seinem Zimmer war erdrückend. Er betrachtete den plätschernden Brunnen im Hof und strich auf dem Weg in die Küche an den Säulen vorbei. Zum Frühstück aß er eine Scheibe frische Ananas und mit Olivenöl beträufelten Toast und nahm seine Tabletten. Seine Gedanken schweiften in der Einsamkeit des Hauses umher. Inés hatte es immer als »verrückt und riesig« bezeichnet, und das war es auch – ein wuchernder, unlogischer, labyrinthischer Ausdruck von Francisco Falcóns bizarrem Geisteszustand.
Und dann trat ihm mit urplötzlicher Klarheit vor Augen, was für jeden außer ihm in seiner monatelangen Reflexion längst offensichtlich gewesen sein musste:
Warum überhaupt noch hier leben? Es ist nicht dein Haus und wird nie dein Zuhause sein. Soll Manuela es haben. Sie will dich nur vor Gericht zerren, weil sie sonst alles verkaufen und eine riesige Hypothek aufnehmen müsste, um es sich leisten zu können.
Danach fühlte er sich plötzlich frei. Er begann, Manuelas Nummer in sein Handy zu tippen, bremste sich jedoch gerade noch rechtzeitig. Er würde das über seine Anwältin Isabel Cano regeln. Es war überflüssig, Manuela alles auf einem Tablett zu präsentieren. Dann würde sie nur noch mehr verlangen. Das Handy klingelte.
»Wir sind für neun Uhr hier verabredet«, sagte Calderón knapp und geschäftsmäßig. »Und ich möchte, dass Sie allein kommen, wenn Sie nichts dagegen haben, Javier.«
Auf dem Weg zur Jefatura gab er die Kassetten in Alicia Aguados Praxis in der Calle Vidrio ab. Bevor er in sein Büro ging, nahm er Inés’ Foto und einige leere Blätter des Fotopapiers, auf dem er seine Schnappschüsse ausgedruckt hatte, mit ins Labor und bat Jorge, festzustellen, ob das benutzte Papier identisch war. In seinem Büro las er die auf seinem Schreibtisch liegenden Berichte, packte alle notwendigen Unterlagen für die Besprechung in seinen Aktenkoffer, in dem er schon einen Ausdruck seiner Internet-Recherche über Madeleine Krugman, geborene Coren, sowie das Foto von Ortega und Carvajal verstaut hatte. Er wollte die Reaktion des Schauspielers darauf sehen. Dann rief er Isabel Cano an, doch in ihrer Kanzlei nahm nach wie vor niemand ab. Ramírez und Ferrera tauchten auf, als er gerade aufbrechen wollte. Er berichtete Ramírez, dass Calderón ihn allein sprechen wollte. Ramírez sollte derweil weiter die Büros von Vega Construcciones filzen, während der Rest der Truppe sich von Tür zu Tür auf die Suche nach Sergej und der mysteriösen Frau machen sollte, mit der dieser gesehen worden war.
Das Edificio de los Juzgados bereitete sich auf einen geschäftigen Vormittag vor. Der Gestank der vor Hoffnung oder Angst schwitzenden Menschheit hatte eine animalische Intensität angenommen, gegen die keine
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