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Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)

Titel: Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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bereits drei von seinen Zigaretten geraucht, und er hoffte, dass der Dolmetscher Raucher war und bald eintreffen würde.
    Es war eine russische Übersetzerin von der Universität, die schließlich mit Ramírez und Falcón den Flur hinunterkam. Serrano öffnete ihnen die Tür. Die beiden Frauen nahmen auf der einen Seite des Tisches Platz, die beiden Männer auf der anderen. Die Dolmetscherin zündete sich eine Zigarette an. Ramírez blickte sich um, als ob hinter ihm ein Kellner stehen würde.
    »Noch einen Aschenbecher, Carlos«, sagte Ramírez.
    Falcón erklärte den Zweck der Vernehmung, während er Nadjas Pass durchblätterte und das noch für sechs Monate gültige Visum betrachtete. Die Schultermuskeln des ukrainischen Mädchens entspannten sich minimal.
    »Sie ist in einer Sprachschule eingeschrieben«, erklärte Ramírez.
    »Wir wollen Ihnen keine Schwierigkeiten machen«, sagte Falcón zu dem Mädchen. »Wir benötigen nur Ihre Hilfe.«
    Auf dem Passfoto hatte sie dunkelbraune Haare. Die Wurzeln waren unter der billigen blonden Färbung noch sichtbar. Sie hatte ihre grünen Augen mit blauem Lidschatten geschminkt, der einen blassen Bluterguss nicht ganz verdecken konnte. Ihre Haut war weiß und fleckig, als wäre sie seit Monaten nicht an der Sonne gewesen. Als sie Falcóns Lächeln erwiderte, entblößte sie eine Lücke neben dem Schneidezahn.
    Falcón legte das Foto von Sergej auf den Tisch. »Woher aus der Ukraine stammen Sie?«
    Die Dolmetscherin übersetzte die Frage.
    »Aus Lvov«, sagte das Mädchen und spielte mit der Zigarette zwischen ihren rissigen Fingern.
    »Was haben Sie in Lvov gemacht?«
    »Ich habe in einer Fabrik gearbeitet, bis sie geschlossen wurde. Danach habe ich weiter nichts gemacht.«
    »Sergej stammt auch aus Lvov. Kannten Sie ihn?«
    »In Lvov wohnen knapp eine Million Menschen«, erwiderte sie.
    »Aber Sie kannten ihn«, sagte Falcón.
    Sie rauchte schweigend mit zitternden Lippen.
    »Ich sehe, dass Sie Angst haben«, sagte Falcón. »Ich sehe, dass die Leute, für die Sie arbeiten, Sie geschlagen haben. Wahrscheinlich bedrohen sie auch Ihre Familie. In all das werden wir uns nicht einmischen, wenn Sie es nicht wollen. Wir fragen nur nach Sergej, weil er für jemanden gearbeitet hat, der jetzt tot ist. Sergej ist nicht tatverdächtig. Wir wollen mit ihm reden, weil er uns bei unseren Ermittlungen vielleicht weiterhelfen kann. Ich möchte, dass Sie uns erzählen, woher Sie Sergej kennen, wann Sie ihn zum letzten Mal gesehen haben und was er zu Ihnen gesagt hat. Nichts von all dem wird diesen Raum verlassen. Und Sie können jederzeit in Ihre Wohnung zurückkehren.«
    Er blickte sie unverwandt an. Sie hatte ein paar hässliche Lektionen über das Wesen der Menschen gelernt und starrte zurück, um zu sehen, ob sein Charakter Risse zeigte – ein Zögern, ein Abwenden des Blickes, eine verräterische Marotte – etwas, das weiteres Leiden befürchten ließ. Dann schaute sie auf ihre billige, pinkfarbene Plastikuhr mit Blumenzifferblatt.
    »In achtunddreißig Minuten muss ich wieder in meiner Wohnung sein«, sagte sie. »Und ich brauche ein bisschen Geld, um ein paar Leute darüber hinwegzutäuschen, wo ich war.«
    »Wie viel?«
    »Dreißig Euro reichen.«
    Falcón blätterte ihr das Geld in zwei Scheinen auf den Tisch.
    »Sergej und ich sind Freunde. Wir kommen aus demselben Dorf in der Nähe von Lvov. Er hat als Lehrer an einem Berufskolleg für Mechaniker gearbeitet. Damit hat er siebenundzwanzig Euro monatlich verdient«, sagte sie und blickte auf das Geld, das Falcón ihr so problemlos gegeben hatte. »Ich habe siebzehn Euro im Monat verdient. Das war kein Leben, sondern ein langsames Sterben. Eines Tages kam Sergej sehr aufgeregt zu mir. Von Freunden hatte er gehört, dass man über Portugal gut nach Europa kam, und in Europa könnte man siebenundzwanzig Euro am Tag verdienen. Wir sind nach Warschau gefahren, um uns ein Visum zu besorgen, und dort sind wir an die Mafia geraten. Sie haben uns die Visa besorgt und den Transport organisiert. Man musste in Dollar bezahlen – achthundert pro Person. Wir hatten schon Gerüchte gehört, dass die Mafia in Lissabon dick im Geschäft war. Wir hatten gehört, dass sie einen aus dem Bus holen, schlagen, die jungen Frauen zur Prostitution und die Männer zu Sklavenarbeit zwingen, bis man eine utopische Schuld abbezahlt hat. Also beschlossen wir, nicht nach Lissabon zu fahren. An einer Tankstelle außerhalb von Madrid machte der Bus Halt, und

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