Die Toten von Santa Lucia
hatte. Und später das Wenige, was von Antonio geblieben war …
Sonja wälzte sich von einer Seite auf die andere – und mit ihr wälzten sich Gedanken über alles, was sie wann falsch gemacht hatte, wälzten sich Worte, die sie hätte sagen sollen und andere, die sie besser heruntergeschluckt hätte.
Luzie hatte Sonjas Zimmer betreten, den kleinen Koffer in der Hand. Wortlos hatte sie ihn aufgeklappt und alles, was darin lag, auf dem Fußboden ausgeschüttet: den braunen Umschlag, das Foto, die Postkarte, den roten Glücksbringer.
»Woher …?«
Luzie hatte das Foto herausgefischt und demonstrativ hochgehalten. »Ist er das? Ist das mein Vater?«
Sonja hatte genickt.
»Und er heißt … warte mal« – Luzie hatte so getan, als lese sie die Postkarte zum allerersten Mal –, »er heißt Antonio?«
Sonja hatte sich geräuspert und genickt.
»Und weiter?«
Achselzucken.
»Aber er hat deine Adresse, ja?« Luzies Tonfall war schriller geworden. »Er hat dir geschrieben?«
»Nur einmal«, hatte Sonja kleinlaut gesagt. »Das da. Mehr nicht.«
»Und du hast ihn belogen«, hatte Luzie daraufhin gebrüllt. »Du hast ihm verschwiegen, dass es mich gibt oder geben wird, stimmt das, ist das die Wahrheit? Du wolltest mich ganz für dich haben? Ist es das?«
»Quatsch! Nein! … Ich …«
Doch Luzie hatte ihre Mutter nicht mehr zu Wort kommen lassen. Sie hatte angefangen zu schreien und Sonja wüst zu beschimpfen. Es folgte Türenknallen, dann Totenstille. Und zwei Stunden später war Luzie weg gewesen. Ohne ihre Mutter nur noch eines Blickes zu würdigen.
Als sie das dritte Mal aufwachte, war es draußen schon hell. Sonja fühlte sich wie zerschlagen.
Die Stadt der Sinne war offenbar schon lange auf den Beinen. Jedes Autohupen wurde wie durch einen Trichter verstärkt in ihre Kammer gelenkt, die sich außerdem im Fadenkreuz diverser Fernsehsendungen befand, die hinter den Wänden und Zimmerdecken hysterisch gegeneinander auftrumpften. Irgendwo wurde lautstark gestritten, es war nicht klar, ob auf dem Bildschirm oder in echt. Sonja zog sich die Decke über den Kopf und tauchte ab in einen Luxuswunsch nach einem hellen, komfortablen, ruhigen, klimatisierten Hotelzimmer: mit leisem Meeresrauschen, Blick auf den silberblau schimmernden Golf von Neapel einschließlich der unvergleichlichen Silhouette von Capri, dazwischen Platz für Segelboote und angenehme Träume …
Je schneller ich Luzie finde, desto schneller bin ich wieder weg, dachte sie, sprang entschlossen aus dem Bett, warf sich eine Hand voll Wasser ins Gesicht, zog sich an und beschloss, auf keinen Fall in der Pension zu frühstücken. Eine zweite Portion Trostlosigkeit würde sie nicht ertragen.
6
Es war sehr früh, als Commissario Gentilini sein Büro betrat, kurz nach sechs. Seit er vor einem halben Jahr aufgehört hatte zu rauchen, hatte er sich angewöhnt, den Tag früh zu beginnen. Das war keine heroische Entscheidung, er musste sich nicht zwangshalber jeden Morgen aus dem Bett quälen, um eine Angewohnheit durch die nächste zu ersetzen. Es war einfach so, dass er, der notorische Langschläfer und Morgenmuffel seit frühester Jugend, neuerdings jeden Morgen gegen halb sechs aufwachte. Und fit war, hellwach. Sein Körper befand sich offenbar massiv im Umbruch.
»Midlife crisis«, hatte sein Kollege Stefano diagnostiziert. »Mit vierundvierzig bist du einfach dran. Such dir ’ne Fünfundzwanzigjährige, das wirkt Wunder, geschieden bist du zum Glück ja schon.« Stefano Di Maio hatte fünf Kinder und war glücklich verheiratet, was ihn vor gewissen Männerphantasien offenbar nicht schützte.
Livia, eine gute Freundin von Gentilini, hatte es anders ausgedrückt: »Auch Männer kommen in die Wechseljahre, Gennaro, wusstest du das nicht?«
Nein, das wusste er nicht.
»Und das Gieren nach einer jungen Frau ist nichts anderes als ein Leugnen des Älterwerdens.«
Aha. Wenigstens ein Trost. Denn er verspürte diese Gier nicht. Er hatte sich seit der Trennung von Rosaria nicht mehr verliebt und zuletzt vor über einem Jahr eine nackte Frau in den Armen gehalten, ein großes Missverständnis nach irgend einer Vernissage, zu der Livia ihn mitgeschleppt hatte.
»Eine Zeit des Umbruchs.«
Das schon eher.
»Eine große Chance, dein Leben zu verändern, alles über den Haufen zu werfen, durcheinander zu rühren und neu zu sortieren.«
Hmm. Es musste ja nicht gleich alles sein. Aber mit dem Nichtrauchen hatte es begonnen, und zwar in dem Moment, als
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