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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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Gentilinis dreizehnjähriger Sohn Giorgio wie selbstverständlich ein zerdrücktes Päckchen Marlboro aus der Jeansjacke gefischt und sich eine Zigarette angezündet hatte. Er hatte auch seinem Vater eine angeboten, und dieser hatte im ersten Moment automatisch zugreifen wollen. Dann war er fuchsteufelswild geworden. Sie hatten sich schließlich darauf geeinigt, dass Giorgio von seinem Vater zweitausend Euro bekäme, wenn er es schaffte, bis zum achtzehnten Geburtstag keine Zigarette mehr anzurühren. Zweiter Teil der Abmachung: Gentilini musste ab sofort aufhören zu rauchen.
    Seither hatte er drei Kilo zugenommen, joggte aber zum Ausgleich zweimal pro Woche am Lungomare oder im Park der Villa Comunale und wachte morgens automatisch gegen halb sechs auf. Er schlürfte dann auf der Terrasse einen Espresso mit viel Zucker, aß dazu zwei, drei Kekse, wässerte die Pflanzen und ging danach zu Fuß zur Arbeit.
    Von seiner Wohnung in den Quartieri Spagnoli bis zur Questura in der Via Medina brauchte er speziell morgens, wenn außer ihm kaum eine Menschenseele unterwegs war, nur knapp zehn Minuten. Mittlerweile genoss Gentilini diese spezielle Stimmung am frühen Morgen, wenn die lichten Seiten der Stadt sanft schimmmerten, wenn der allgegenwärtige Verkehrslärm und das Chaos noch schliefen – und die meisten seiner Kollegen auch. Zwischen sechs und acht konnte er konzentrierter arbeiten als während der restlichen Stunden des Tages, er las Berichte, schrieb Protokolle, studierte Akten, recherchierte im Internet, dachte nach.
    Zwei Tote am Montag. Am Wochenende hingegen kein einziger, das war schon was, das schmeckte beinahe nach Frieden. Aber eben doch nur beinahe. Der Eindruck verflüchtigte sich ebenso schnell wie die Kühle des Morgens. Letzte Woche hatte es bei einer Auseinandersetzung zweier Banden vier Tote gegeben, allesamt draußen in Scampia. In Castellammare war der Besitzer eines Nachtclubs niedergestochen worden, in Portici hatte ein Mann seinen Schwager erschossen. Und täglich kamen neue Fälle dazu. Der Wert eines Menschenlebens tendierte allmählich gegen null.
    Trotzdem war die Rate der Aufklärung von Verbrechen im Schnitt höher als die der Verurteilungen. Immer wieder wurden Kriminelle, die Gentilini und seine Kollegen nach aufwendigem Zusammentragen von Beweisen endlich hatten verhaften können, nach Ablauf der Untersuchungshaft wieder auf freien Fuß gesetzt, weil die Fristen bis zum Prozessbeginn abgelaufen waren. Wenn es ausnahmsweise doch zu einer Verurteilung kam, standen schon am nächsten Tag vier Nachwuchscamorristi auf der Matte. Das Wort Katastrophe war geprahlt. An die fünfzigtausend Verfahren waren aktuell anhängig. Die Gerichte erstickten geradezu in Akten, und schon arbeitete er an weiterem Trockenfutter für die Vorratskammern der Justiz.
    Der Drogenhandel war ironischerweise der einzige Sektor, auf dem Neapel samt Hinterland Anschluss an den Weltmarkt gefunden hatte – allerdings wurde der Konkurrenzkampf derzeit nicht über Angebot und Nachfrage geregelt, sondern mit Handfeuerwaffen, die problemlos in Ex-Jugoslawien und Albanien beschafft wurden. Im letzten Sommer war das Gleichgewicht unter den Clans, speziell was den Markt für harte Drogen betraf, aus dem Lot gekommen. Durch die Verhaftung eines Clanbosses und den offenbar natürlichen Tod eines weiteren wichtigen Camorristen war ein Machtvakuum entstanden. Mehrere Clans hatten sofort begonnen, ihren Einflussbereich auszuweiten, kriminelle Emporkömmlinge hatten versucht, auf eigene Faust zu arbeiten, neue Allianzen waren entstanden, unter anderem mit dem Ziel, sich gegenseitig auszuschalten. Im Vergleich zum Camorrakrieg der achtziger Jahre waren die Sitten noch kaltblütiger und brutaler geworden. Verrohung auf jeder Ebene. Schon beim geringsten Anlass wurde geschossen, oft genug traf es Unschuldige.
    Was allerdings nicht für die beiden Opfer von gestern galt. Giuliano Amato und Angelo Benincasa gehörten beide zum engeren Kreis um den Mariani-Clan, der das Viertel Montesanto kontrollierte. Die Mariani wiederum waren seit Urzeiten mit den Sanguinelli verfeindet, außerdem spielte natürlich auch hier wieder der Machtanteil im Drogengeschäft eine Rolle. Anfang April war das Auto des ältesten Mariani-Sohns in die Luft geflogen, zum Glück war niemand zu Schaden gekommen. Eine Woche später hatten Kinder beim Spielen in einer Bauruine in Aversa einen Onkel von Enrico Mariani tot aufgefunden. Vorletzte Woche hatten die

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