Die Toten von Santa Lucia
Sanguinelli die Haftentlassung des ältesten Sohnes Riccardo gefeiert, vielleicht eine Spur zu feucht und ausgelassen, was wiederum die Mariani genutzt hatten, um im wahrsten Sinne des Wortes zurückzuschießen, nämlich auf den jüngsten Spross des Clans, Alfredo Sanguinelli, der seither schwer verletzt und schwer bewacht im Krankenhaus Cardarelli lag. Nach der Schießerei in den Quartieri sah es ganz so aus, als würde sich die Dauerfehde nun auch auf Nichtverwandte ausweiten.
»Logisch, der Doppelmord ist eine Antwort auf den Überfall in der Via Santa Teresa Degli Scalzi vor zehn Tagen«, hatte Ispettore Cava getönt.
»Einen Doppelmord als Antwort zu bezeichnen, ist verharmlosend und euphemistisch zugleich«, hatte Gentilini schlecht gelaunt erwidert, obwohl Cava inhaltlich vermutlich Recht hatte.
»Euphe-was ?«, hatte Cava misstrauisch gefragt.
»Euphemistisch. Beschönigend. Ein Doppelmord ist nicht schön. Und auch keine Antwort auf eine Frage. Antworten bestehen, wie das Wort schon sagt, aus Worten, nicht aus Projektilen.«
Cava war rot angelaufen, weil er wieder einmal in eine der Fallen gestolpert war, die Gentilini von Zeit zu Zeit auslegte. Animositäten waren in einem so großen Betrieb völlig normal. Dass Cava und Gentilini sich nicht ausstehen konnten, war ein offenes Geheimnis. Gentilini allerdings saß auf der Karriereleiter ein paar Sprossen höher.
»Dann eben Rache«, hatte Cava wütend erwidert und diesen Impuls vermutlich problemlos nachvollziehen können. »Va bene così, professore« ?
»Schon besser«, hatte Gentilini kühl erwidert.
Er verabscheute diese sinnwidrigen, vorgestanzten Formulierungen, wie die Medien sie seit Berlusconis Machtantritt verstärkt in Gebrauch hatten. Alle Welt benutzte sie, auch ihm selbst passierte das zuweilen, aber er konnte die Verflachung, Verdummung und Verrohung einfach nicht unkommentiert hinnehmen. Cava wiederum speiste seinen Wortschatz und seine Halbbildung überwiegend aus den Quellen von TV, Sportschau, Werbespots und Co. Der Ispettore würde es ihm heimzahlen, das wusste der Commissario. Vor allem aber war Cava ein Opportunist ersten Ranges mit feiner Nase für jedwede Machtveränderung im Universum der Kriminalpolizei. Auch bei Gentilini hatte er sich vor drei Jahren anzudienen versucht, ohne Erfolg. Jetzt arbeitete er im Team von Coppola, der jedoch seit drei Monaten krankgeschrieben war. Das bedeutete, dass Gentilini und Di Maio die Arbeit von Coppolas Team mit betreuten, und das wiederum bedeutete, dass sie häufiger mit Cava zu tun hatten, als ihnen lieb war.
Gentilini stand auf und reckte sich. Er trat ans Fenster. Von seinem Büro aus sah er einen schmalen Streifen Meer. Was hieß da schon Meer. Hafen. Drecksbrühe. Er sollte wieder einmal auf die Inseln fahren, er war schon viel zu lange nicht aus Neapel herausgekommen. Ein Cousin von ihm war Kapitän auf den Fährschiffen der Caremar. Vielleicht konnte er es am nächsten Sonntag mit Giorgio und Isabella einrichten. Papawochenende. Sofern es dabei blieb. Er fing leise an zu summen.
Draußen auf dem Flur ertönten Schritte. Es klang wie ein zweibeiniger Elefant. Gentilini blickte erstaunt auf die Uhr. Schon zehn nach acht. Die Tür flog auf. Stefano Di Maio stand im Raum.
»Buon giorno, Gennà«, dröhnte er mit seinem vollen Bass und steuerte mit festem Schritt auf seinen Schreibtisch zu.
»Ciao, Ste. Tutto bene?«
Sein Kollege strahlte über das das ganze Gesicht. »Klar. Wieso auch nicht? Zwei neue Leichen. Alle Welt ist am Stöhnen, aber uns geht die Arbeit nicht aus.« Er rieb sich die Hände.
»Deinen Humor möchte ich haben«, brummte Gentilini.
»Wieso Humor? Harte Tatsachen sind das.« Di Maio ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. Er war etwa eins sechzig groß und hatte sein Gewicht in den vergangenen Jahren verdoppelt, was ihn nicht im Geringsten störte. »Und selbst? Was machen die Frauen?«
Gentilini verdrehte die Augen. »Ste, ti prego …«
Die tägliche Frage nach den Frauen hatte vor einiger Zeit die tägliche Frage nach der Liebe abgelöst. Ganz offensichtlich war beides nicht identisch, diese Einsicht hatte sogar Di Maio ereilt. Seit Gentilini wieder allein lebte, lud Stefano ihn alle paar Wochen zu sich nach Hause zum Abendessen ein, und dazu meistens irgend eine Freundin des Hauses, die auch Single war. Diese Tatbestände vorsätzlich versuchter Kuppelei waren bisher jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Aber Stefano ließ nicht locker.
»Wen hattest du
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