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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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fünf Cent. Kein bisschen Neugier auf das Auftauen eines eingefrorenen Stücks Vergangenheit. Und schon gar keine Neugier auf ein face-to-face mit dem Erzeuger ihrer Tochter. Wenn sie schon mit weiblichem Spürsinn kokettierte, musste sie auch damit rechnen, dass er ihr tatsächlich irgendwo in Neapel über den Weg lief. Was würde sie dann sagen? Würde sie ihn überhaupt erkennen? War er alt geworden, hatte er Falten, graue Haare, eine Glatze, einen Bauch? Hatte er sich vom jugendlichen Sponti mit Jeans, Gitarre und Turnschuhen in einen Bürohengst in Anzug und Krawatte verwandelt wie etliche ihrer Bekannten von damals? Hatte die Zeit an ihm ihre Zähne gewetzt, oder trug er den ewigjungen Verführer zu Markte – wie der etwa fünfzigjährige braun gebrannte Neapolitaner, der soeben die in der Nähe der Pension gelegene Bar betrat, Sonja über den Rand seiner Armani-Sonnenbrille hinweg taxierte und sich neben sie an die Theke stellte?
    Sie biss in ein Blätterteigteilchen, das außen knusprig und innen weich war, irgendeine Ricottavariation. Lecker, aber schwer zu essen – die Hälfte landete zu ihrem Bedauern auf dem Fußboden.
    »Gianni, dai, dà un’altra sfogliatella alla signora!« Der Mann zeigte blendend weiße Zähne und nickte ihr zu. Sie konnte nicht protestieren, weil sie noch kaute, aber sie winkte mit Nachdruck ab.
    »Woher kommen Sie?«
    Nicht zu antworten war idiotisch. »Aus Frankreich.«
    »Bella la Francia.«
    »Sì. «
    »Parigi?«
    Warum eigentlich nicht. Oder? Nein, lieber aus Marseille.
    »Marsiglia.«
    »Sie sprechen gut Italienisch.«
    Diese Nummer schon wieder …
    »Mein Mann ist Italiener«, sagte sie lächelnd.
    » Ho capito … di Napoli?«
    »Ja, aus Neapel.«
    Daraufhin rückte der Mann wieder auf normale Distanz von ihr ab, bestellte einen Espresso und begann ein Gespräch mit dem Barmann.
    Wunderbar, wie das immer wieder klappte. Sobald sie den nicht existenten Ehemann aktivierte, wurde sie in ganz Italien in Ruhe gelassen. Meistens jedenfalls.
    Diesmal aber hatte die kleine Szene einen bitteren Beigeschmack: mein Mann aus Neapel … Ein paar Monate nach der folgenreichen nächtlichen Begegnung hatte Antonio ihr eine Postkarte vom Vesuv geschickt und auf die Rückseite irgendein Gedicht gekritzelt, noch dazu auf Neapolitanisch, das Sonja weder entziffern noch verstehen konnte. Und als Unterschrift nur knapp: Antonio, und eine Zeile darunter Di Napoli – für den Fall, dass sie mehrere Antonios auf Lager hatte, darunter immerhin einen aus Neapel …
    Vor dem Abschied hatte sie ihm ihre Adresse auf eine Packung MS gekritzelt, er hatte ihr seine Telefonnummer auf den Handrücken geschrieben. Mehr nicht. Am Tag danach hatte Sonja die Nummer unter A wie Antonio in das kleine Adressbuch mit dem chinesischen Einband übertragen, das voll war mit Adressen und Telefonnummern von Leuten aus der ganzen Welt, die sie irgendwo mal getroffen hatte, beim Trampen in Südfrankreich, in Kopenhagen, aber nie wiedersehen würde. Dass sie nach dieser einen Nacht schwanger sein würde, hatte sie ja nicht ahnen können.
    Sonjas Gedanken wanderten zu dem Tag, an dem sie sich durchgerungen hatte, endlich den Test zu machen, den sie schon eine Woche zuvor gekauft hatte. Ungläubig hatte sie auf die beiden Abschnitte auf dem Teststreifen gestarrt, die sich verfärbt hatten und eindeutig schwanger signalisierten – schwanger, schwanger, schwanger –, verschwörerisch, wissend, unmissverständlich. Das war mehr als zwanzig Jahre her. Sie hatte unbändige Freude verspürt und ebenso große Angst. Aber sie hatte sofort gewusst, dass sie dieses Kind wollte. Es war da, es gehörte zu ihr. Sicher, sie hätte sich davon befreien können, sie hatte keine moralischen Bedenken, aber eine Abtreibung war ihr nicht eine Sekunde lang in den Sinn gekommen.
    Später am Tag war sie lange rastlos um das Telefon gekreist. Schließlich hatte sie die Nummer gewählt, die Antonio damals auf ihren Handrücken geschrieben hatte, und diese Frau war am Telefon gewesen, auch am nächsten Tag …
    Schluss mit den unseligen Erinnerungen. Sie bestellte einen weiteren Espresso und widmete sich wieder der Liste, die sie auf einem kleinen Block zusammengestellt hatte. Darauf hatte sie die Orte verzeichnet, an denen sie nach Luzie suchen würde. Ganz oben stand: Sprachenschulen und Pensionen. Darunter: angesagte Cafés, Bars, sonstige Treffpunkte. Eine weitere Kategorie hieß: Buchläden, CD-Läden, Schuhläden etc.
    Beginnen würde sie

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