Die Toten von Santa Lucia
mit den Sprachenschulen. Luzie konnte ja nur ein paar Brocken Pizzeria-Italienisch, aber sie kommunizierte gern und viel. Außerdem lernte sie Fremdsprachen schnell und leicht. Sollte sie ihren Vater, auf welchem Weg auch immer, tatsächlich ausfindig machen, dann würde sie ihn nicht nur mit großen Augen anstarren, sondern vor allem mit ihm reden wollen, was sonst. Und das hieß zu allererst, Italienisch zu lernen.
Sonja schrieb Museen, Galerien in die nächste Zeile. Pompeji, Capri etc. Vielleicht hatte Luzie den Kontakt zu deutschen Institutionen in Neapel gesucht? Sie notierte Konsulat und Goethe-Institut, setzte aber mehrere Fragezeichen dahinter.
Sie hatte Maris gefragt, ob sie sich noch an die Namen der anderen drei Neapolitaner erinnerte, die damals auf dem Zeltplatz in Venedig mit dabei waren. Einer hieß offenbar Sergio. »Das war der mit den kurzen Beinen«, hatte Maris sich erinnert, »und der andere mit der Brille, warte mal, nee, sorry, echt keine Ahnung, das ist einfach zu lange her.«
Sie fragte den Barmann nach einem Telefonbuch, um nach den Adressen der Sprachenschulen zu suchen. »Mi dispiace, signora.« Telefonbücher seien in Neapel eine Rarität, fügte er hinzu.
»Können Sie mir sagen, wie ich zur Touristeninformation komme?«
Er schnalzte bedauernd mit der Zunge. »Da kenne ich mich nicht aus. Bin ich ein Tourist? Nein, ich stehe hinter der Theke, sieben Tage die Woche.« Er beschrieb ihr den Weg zur Kirche San Domenico Maggiore. Am Zeitungskiosk auf dem Platz vor der Kirche arbeite ein Cousin von ihm. Dort solle sie weiterfragen.
Doch schon das Vorwärtskommen war alles andere als einfach. Auf der Via Tribunali herrschte ein Chaos, das dem Klischee vom regen Treiben in einer süditalienischen Stadt voll und ganz gerecht wurde. Ständig musste Sonja auf hupende Autos achten, Frauen mit Kinderkarren ausweichen, zur Seite springen, wenn von Halbwüchsigen gelenkte Vespas rasant wie auf der Achterbahn um die Ecken brausten. Es war laut, eng, stickig und anstrengend, und die weiblich-intuitive Suche wurde Meter für Meter von einer Flut von Sinneseindrücken unterspült. Unentwegt gab es etwas zu sehen, zu hören, zu riechen, das verheißungsvolle Aroma von Espresso, frisch gebackenen Teigwaren, den Geruch nach Fisch, modrigem Mauerwerk. Da waren die lockenden Rufe der Verkäufer, Musikgedudel, lautstarke Gespräche, Kindergeschrei. Vor fast jedem Laden blieb Sonja stehen: vor Türmen von Nudelpackungen und Pyramiden aus Dosentomaten, vor Schaufenstern mit Spitzenunterwäsche und altmodischen Schlafanzügen, vor Käselaiben und Schweinefüßen und Armbanduhren, Gemüseständen mit Bergen von Orangen, Artischocken, Brokkoli, Tomaten, vor Plastikschüsseln voller Herzmuscheln, Venusmuscheln und Eimern mit lebenden Aalen und Calamari, vor Auslagen mit Kerzen und kitschigen Heiligenfiguren, vor den Vitrinen der vielen kleinen Geschäfte mit Haushaltswaren, Eisenwaren, Elektrobedarf – und endlich auch am Zeitungskiosk auf der Piazza San Domenico Maggiore.
Schlagzeile war der Doppelmord in den Quartieri Spagnoli. Sonja kaufte eine Zeitung, widerstand aber der Versuchung, sich auf die Stufen vor der Kirche zu setzen und zu lesen, was über das gestrige Blutbad berichtet wurde. Das konnte warten. Sie erkundigte sich nach dem Weg zum Büro der Touristeninformation. Es war nicht weit.
8
An den Wänden hingen Plakate mit den bekanntesten Sehenswürdigkeiten rund um den Golf von Neapel. Vier amerikanische Touristen belagerten den Informationstresen. Es ging unüberhörbar um die Frage, wie man an einem Tag die Ausgrabungen in Pompeji, eine Vesuvbesteigung sowie einen Besuch der Oper San Carlo kombinieren konnte. Zwei junge Neapolitanerinnen erklärten in gebrochenem Englisch, dass es sowieso keine Opernkarten mehr gebe, aber Theaterkarten hätte sie noch, Napoli Milionaria von Eduardo de Filippo.
»But we won’t understand a single word!« , stöhnte eine der beiden Amerikanerinnen.
»Doesn’t matter« , sagte der dazugehörige Mann. »We get the local picture.« Er kaufte vier Karten. Danach ging es eine Weile um Preise und Fahrzeiten von Vorortzügen, Bussen, Taxis. Dann zog das Grüppchen ab. Endlich wandte sich eine der Angestellten Sonja zu. Sie musste ungefähr in Luzies Alter sein, hatte wie sie dunkle Augen und dunkle, lockige Haare, die mit vielen bunten Spangen zurückgesteckt waren. Ihr Blick wirkte abweisend und arrogant, aber vielleicht war nur eine Überdosis Langeweile daran
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