Die Toten von Santa Lucia
Eingang finden, der ziemlich versteckt in einem schmalen Gang zwischen einer Salumeria und einem Schuhgeschäft lag. Sonja ging zweimal daran vorbei, bis sie ihn entdeckte. Nur ein winziges Schild wies auf die European Language School Caruso im zweiten Stock hin. Während sie die Treppen hochstieg, malte sie sich schon aus, dass sie auf Anhieb genau die richtige Sprachenschule erwischt hätte. Sie würde den Namen ihrer Tochter nennen, und sofort würde es heißen: »Aber natürlich, certo, Lucia, die besucht bei uns den Kurs B 2 …«
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte die Frau im Sekretariat leicht blasiert. Sie war blond, trug riesige goldene Ohrringe, hatte auch mit Make-up und Duftnoten nicht gespart, so dass Sonja einen Moment glaubte, sie hätte sich in der Tür geirrt. Dann aber entdeckte sie diverse Stapel Italienisch-Lehrbücher auf einem Tisch an der Wand.
»Ich suche eine junge Deutsche, die an einem Italienischkurs teilnimmt«, begann sie. »Anfänger vermutlich. Sie heißt Luzia Zorn.«
Die Miene der Frau verriet nicht, ob sie die Frage überhaupt gehört hatte. Sonja wiederholte ihr Anliegen. »Könnten Sie vielleicht in Ihrem Computer nachsehen, welchen Kurs Luzia Zorn besucht?«
»Das machen wir eigentlich nicht … Datenschutz, das kennen Sie in Deutschland ja sicherlich auch.«
»Natürlich.« Sonja lächelte genauso künstlich wie ihr Gegenüber aussah. Vielleicht förderte das die Kommunikation. »Das kennen wir genau.«
Typischer Zickenfeldzug, dachte sie. Ich will was von ihr, also lässt sie mich erst mal zappeln. Kennen wir alles. Vor fünf, sechs Jahren hatte Luzie diese weibliche Masche eine Zeit lang an ihr getestet, ähnlich wie sie ihre Wirkung vor dem Spiegel und das Rauchen und das Vegetariertum und das neue Joghurtmarilleneis vom Italiener an der Ecke ausprobierte. Wenn Sonja etwas fragte, hatte ihre Tochter mit den Augen gerollt und dann diesen gelangweilten, oberklugen Blick aufgesetzt, der zu sagen schien: Was willst du, he? Willst du Ärger? Egal, ich lass dich auflaufen, von mir bekommst du nichts, gar nichts, vor allem keine Antwort. Am Anfang war Sonja irritiert, ja verletzt gewesen, denn sie und Luzie hatten immer offen miteinander geredet, ohne Umwege, Falltüren, Trickserei. Dann hatte sie beschlossen, nicht mehr darauf zu reagieren. Sich weder aufzuregen noch auf die Tour einzugehen. Auch zum Zickenspiel gehörten mindestens zwei. Für eine Person allein war das Spiel langweilig. Nach einiger Zeit hatte Luzie von selbst wieder damit aufgehört.
Sonja lächelte noch immer und sah die Barbiepuppe mit dem Goldohrring dabei unverwandt an.
»Und worum geht es?«
»Um eine dringende Familienangelegenheit.«
Das musste reichen. Je weniger Drumherum, desto wirkungsvoller. Familie … Luzie hatte ja Recht. Dass sie sich auf die Suche machte. Nach ihrem Vater, nach sich selbst. Dass sie sich nicht abspeisen ließ mit wohlfeilen Sprüchen über Väter im Allgemeinen und die Freundschaft zwischen Töchtern und Müttern im Besonderen. Wahrscheinlich hätte Sonja sich an Luzies Stelle nicht anders verhalten: aufzubegehren, sich zu wehren gegen das Maß an Wahrheit, das ihr vorgesetzt wurde, sich nicht zufrieden zu geben mit der erstbesten Antwort, die ihr angeboten wurde. Was heißt hier hätte und wahrscheinlich … War Sonja nicht auch deshalb Journalistin geworden? Um weiterzubohren, beharrlich nachzuforschen, einer Sache bis zum Grund nachzugehen?
Sie atmete tief durch. Sie würde nicht eher wieder gehen, als bis dieses albern aufgeschminkte Geißlein mit den Modeschmuckohrringen sich endlich bequemen würde, ihrem Computer mit lackierten Fingernägeln ein paar Befehle zu erteilen. Die ganze Anspannung der letzten Tage und die nun aufsteigende Wut mündete in einen einzigen Satz, den Sonja in einen autoritären, aber dennoch sanften Tonfall bettete: »Sono la mamma.«
Kurze Pause. Ein Riss in der blonden Fassade.
Zauberwort. Es wirkte.
In den Augenwinkeln der Dame zeigten sich zwei hübsche Fältchen. »Wenn das so ist …« Sie wandte sich dem Computer zu. »Wie war noch der Name?«
»Luzia. Luzia Zorn.«
»Un attimo …« Die Frau tippte den Namen ein, stutzte, tippte weiter, betätigte diverse Tasten, seufzte. Sonja musste den Namen aufschreiben.
»LUZIA ZORN. Ho capito, con la zeta.« Wieder gab sie den Namen ein. Luzia mit Z statt mit C. Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Also bei uns ist sie auf jeden Fall nicht.« Damit war der Fall für sie
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