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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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besten in ein Café und warten ab – irgendwann kommt derjenige, den Sie suchen, mit Sicherheit vorbei.«
    »Das kann ja ewig dauern«, sagte Sonja missmutig. Er öffnete die Arme wie am Tag zuvor der Commissario und lachte. »Und wie lange dauert die Ewigkeit? Das kann niemand genau sagen. Vielleicht eine Stunde oder zwei Tage, drei Wochen, vier Monate, fünf Jahre …? Die meisten Dinge klären sich bis dahin ganz von allein.« Er hob den Zeigefinger. »Aber man muss Geduld haben. Wer es eilig hat im Leben, ist in Neapel fehl am Platze …«
    Ja, dachte Sonja, als sie die Treppe hinunter trottete. Genau so fühlte sie sich. Fehl am Platze. Hundeelend. Wie mit dem Serum der Vergeblichkeit geimpft. Lebensweisheiten waren immer nur ein Spielzeug derjenigen, die weit genug vom Ufer weg standen und sich nicht die Füße nass machten. Großer Katzenjammer also. Schuldgefühle. Eine Prise Selbstmitleid. Ratlosigkeit. Sich in ein Café setzen und warten? Dann schon lieber ins Kino, Luzie ging gern ins Kino. Also jeden Abend ins Kino gehen und im Dunkeln warten? Zum heiligen Antonio beten? Eine Kerze stiften?
    Als sie durch den engen Gang auf die Straße trat, legte sich die schwüle Hitze um sie wie ein zu enges Kleid. Autos rumpelten über das unebene Straßenpflaster und sättigten die Luft mit Abgasen, jede Menge Leute drängten sich auf dem Gehweg aneinander vorbei. Irgendwo hoch über der Dunstglocke stand die Sonne fast senkrecht am Himmel. Sonja hatte Durst und sehnte sich nach einer stillen Ecke. Nach Schatten. Nach Vergessen. Was sie vor wenigen Stunden fasziniert hatte, die Vielfalt, das Gewimmel, die Vitalität, stieß sie nun ab. Sie war dem Durcheinander nicht gewachsen. Sie fühlte sich fremd und klein und mutlos. Gab es in diesem steinernen Herzen der Stadt nicht irgendwo eine ruhige Ecke, einen Flecken Grün, um den aggressiven Vespafahrern mit ihrem blödsinnigen quäkenden Gehupe und dem ganzen übrigen Durcheinander des Lebens wenigstens für einen Moment zu entkommen?
    Plötzlich wusste sie die Antwort. Eine Kirche, dachte sie. Kirchen waren Orte, um zur Ruhe zu kommen, zu sich selbst oder zu dem, was jeder auf andere Weise unter Gott verstand. Und Kirchen gab es in Italien doch an jeder Straßenecke, sie war an etlichen vorbeigegangen. Während sie sich durch die Menschenmenge schob, dachte sie nur, bitte, lass alles dort auf mich warten, aber keinen heiligen Antonio …

10
    Sie setzte sich in eine der Kirchenbänke und sah sich im Halbdunkel um. Marmorsäulen, Deckenfresko, in den Seitenkapellen düstere Barockgemälde. Santa Maria delle Anime del Purgatorio. Die Seelen im Fegefeuer. Dafür war es hier überraschend kühl und frisch. Wie schnell auch der Lärm verebbte und alles, was sie eben noch bedrängt hatte, verblasste. Zu hören war nur das Quietschen von Schuhsohlen, leises Gemurmel, das Klappen einer Tür. Ein Geruch nach modrigen, feuchten Mauern und nach Weihrauch lag in der Luft. Weiter vorn saßen zwei alte Frauen und beteten den Rosenkranz.
    Sonja schloss die Augen, aber innerlich kam sie nicht zur Ruhe. Sie hatte es jahrelang versäumt, Luzies Sehnsüchte nach einem Vater abzufedern und aufzufangen. Wenn wir nur miteinander geredet hätten, dachte sie. An dem Tag, als Luzie den Koffer fand. Nein, vorher, lange vorher. Von wegen beharrlich einer Sache auf den Grund gehen, von wegen Offenheit und Aufklärung. Hätte sie Antonio nur öfter erwähnt, undramatisch, wie nebenbei, beim Abspülen, beim Kuchenbacken, beim Warten auf den Bus: dein Vater, ja, der war ein waschechter Neapolitaner, er konnte Gitarre spielen und singen und wusste ein paar Gedichte auswendig und, wie sah er aus, das hab ich dir doch schon so oft erzählt, also gut, nochmal von vorn, ein bisschen so wie du, glaube ich, das ist ja so lange her, die Augen, die Haare, der Mund, das kommt hin, die Nase hast du von mir und das Grübchen von Opa, ob ich in ihn verliebt war, was stellst du für Fragen, weiß ich nicht mehr, ja, natürlich war er ganz nett, warum er nicht bei uns geblieben ist, er wohnte doch in Neapel, das ist weit weg, warum wir nicht auch dort sind, aber wir leben doch hier in Hamburg, wie hätte das gehen sollen? Das ist kein Grund, sagst du? Also, hör mal …
    Dieses Gespräch hatte nie wirklich stattgefunden, aber seit Luzie verschwunden war, formierte es sich in Sonjas Vorstellung in immer neuen Varianten und Bausteinen – wie ein Gewitter zwischen zwei Gebirgszügen, das erst abziehen kann, wenn

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