Die Toten von Santa Lucia
die Spannung sich vollständig entladen hat.
Sie hätte Luzie von der Zeit vor ihrer Geburt erzählen müssen. Von der Fahrt nach Venedig in dem monströsen alten Opel Kapitän, den Maris über Kleinanzeigen für achthundert Mark erstanden hatte. Bis kurz vor Bozen war die Karre wunderbar gelaufen, dann begann der Kühler zu kochen, und sie mussten eine Werkstatt aufsuchen. Bei einem italienischen Fabrikat hätten sie zwei Stunden später weiterfahren können, so aber hatte die Reparatur zwei Tage gedauert. Eigentlich war der Opel Kapitän schuld … Wären Maris und Sonja nur zwei Tage früher an der Lagune von Venedig eingetrudelt, hätten sie Antonio und seine Freunde womöglich nie kennen gelernt. Vielleicht wäre der Campingplatz ausgebucht gewesen, oder sie hätten ihr Zelt am anderen Ende des Areals aufgebaut, nicht direkt neben den vier jungen Neapolitanern, sondern vielleicht neben einem Pärchen aus Schweden, mit dem sich nicht mehr Kontakt ergeben hätte als ein Kopfnicken und einmal Salzausleihen – thanks, you’re welcome.
Zwei Tage, dachte Sonja, und alles wäre anders gelaufen. Sie hätten die vier nicht auf der Fähre nach Venedig wiedergetroffen und dann ein zweites Mal auf einer der vielen kleinen Brücken über die Kanäle. Sie wären danach nicht wie selbstverständlich zusammen Pizza essen gegangen und später mit mehreren Flaschen Wein beladen zum Strand gezogen. Sie hätte nicht neben Antonio im Sand gesessen, der immer näher an sie herangerückt war oder sie an ihn, obwohl oder weil es eine laue Nacht war … Sie hätte Luzie, verdammt noch mal, einweihen müssen, bei einem Spaziergang im Alten Land oder an einem gemütlichen Sommerabend auf dem Balkon oder wann auch immer – vor allem aber mit Zeit, mit viel Zeit, nicht schnell, schnell zwischen Tür und Angel … Eine seltsam hohl klingende Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Si chiude, signora.«
Sie schrak hoch, sah sich um. Außer ihr befand sich niemand mehr in der Kirche. Dann sah sie den alten Mann, der mit einem großen Schlüssel in der Hand in Richtung Portal schlurfte.
Benommen trat sie auf die Straße und war einen Moment wie geblendet. Der Lärm, die Hitze, die Enge – alles wie zuvor. Eine ganz in Schwarz gekleidete Frau stand vor einem der beiden bronzenen Totenschädel, die rechts und links vor der Kirche auf einem Marmorsockel ruhten, legte ihre Hand darauf und murmelte dazu etwas Unverständliches. Die dunkle Bronze der beiden Schädeldecken schimmerte wie hochglanzpoliertes Gold, so viele Leute hatten dem Tod schon die Hand aufgelegt. Je weiter man gen Süden kam, desto bildlicher und alltäglicher schien der Tod zu sein, ein selbstverständlicher Teil des Lebens und zugleich die Endstation, die niemand überspringen konnte. Der Tod war wie ein armer Verwandter, der ebenso mit durchgefüttert wurde wie eine streunende Katze, und von Zeit zu Zeit wurde er gestreichelt.
»Porta fortuna«, sagte die Frau und nickte Sonja auffordernd zu.
Die Dreizehn, der heilige Antonio und nun als zusätzlicher Glücksbringer auch noch Streicheleinheiten für den Tod?
Es ging alles blitzschnell. Sonja wollte gerade dem rechten der beiden Schädel die Hand auflegen, als sie einen heftigen Ruck verspürte. Eine Vespa mit zwei jungen Männern fuhr haarscharf hinter ihr vorbei, einer der beiden griff nach ihrem Rucksack, den sie über der linken Schulter trug. Sonja packte geistesgegenwärtig den Schulterriemen und klammerte sich daran fest. Der Vespafahrer gab Gas, auch sein Sozius ließ nicht locker, Sonja wurde mitgerissen und wäre fast gestürzt, doch in dem Moment kam aus der Gasse neben der Kirche ein Moped hervorgeschossen, was beide Fahrer zu halsbrecherischen Ausweichmanövern zwang, damit sie nicht mit Karacho kollidierten. Die Vespa kam ins Schlingern, und der Beifahrer ließ zum Glück endlich seine Beute los, sonst wäre Sonja unter die Räder oder zwischen beide Motorroller geraten oder meterweit mitgeschleift worden. Der Mopedfahrer, ein beleibter Mann unbestimmten Alters, drohte den Flüchtenden mit erhobener Faust und fluchte: »Maledetti! Mascalzoni maledetti!« Die beiden Jugendlichen stießen ihrerseits die Fäuste in die Luft und brüllten irgendetwas zurück, was Sonja nicht verstand.
Sie stand völlig verdattert vor der Kirche und presste den geretteten Rucksack mit beiden Händen an sich. Der Mann auf dem Moped war längst weitergefahren.
»Tutto bene, signora?« Die Frau in Schwarz kam auf sie zu. »È
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