Die Toten von Santa Lucia
erledigt.
Schade, es wäre aber auch zu schön gewesen, gleich bei der ersten Station einen Zufallstreffer zu landen.
Sonja hatte die Lage der Sprachenschulen im Altstadtplan markiert. Die nächste Schule, bei der sie nachfragen wollte, lag keine fünf Minuten entfernt schräg gegenüber vom majestätischen Portal des Istituto Universitario Orientale. Sie betrat einen schmucklosen Innenhof. Ein offenes Treppenhaus führte in die oberen Stockwerke. Auf der Treppe kamen ihr zwei schwatzende Asiatinnen entgegen, hinter ihnen, am Akzent leicht zu erkennen, eine Gruppe junger Amerikaner. Auch bei De Filippo saß eine Frau am Empfang, die aber freundlich und entgegenkommend war. Allerdings hatte Sonja auch hier kein Glück. Eine Lucia oder Luzia hatte in diesem Jahr noch nicht an den Kursen teilgenommen. Eine Lucille hingegen ja, auch eine Lucy.
Es war normal, es war zu erwarten gewesen, aber Sonja war plötzlich zum Weinen zumute.
Die Frau am Empfang sah sie mitfühlend an. »Was ist Ihre Glückszahl?«
Glückszahl? Was hatte das damit zu tun?
»Dreizehn«, murmelte Sonja automatisch, denn Luzie war an einem Dreizehnten zur Welt gekommen, am dreizehnten Juni, einem Donnerstag.
Jedes Mal, wenn ihr Geburtstag auf einen Freitag fiel, hatten sie etwas Besonderes organisiert, um dem Aberglauben und seinen vermeintlichen Anhängern ein Schnippchen zu schlagen. An Luzies zwölftem Geburtstag hatten sie eine Nachtwanderung unternommen. Die ganze Nacht hindurch waren Sonja, Luzie und dreizehn eingeladene Freundinnen unterwegs gewesen, mit Fackeln, Decken, Proviant und Geschichten. Um zehn Uhr abends waren sie gestartet, ab Mitternacht wurden stundenlang unter einer Trauerweide Gruselgeschichten erzählt und über einem kleinen Feuer Würstchen und Marshmallows gegrillt, das erste Vogelgezwitscher war der Auftakt zum Baden im See, während hinter den Baumwipfeln die Sonne aufging. Vor zwei Jahren war Luzie am Freitag, den dreizehnten, volljährig geworden. Sonja hatte ihr einen Flug nach New York geschenkt und es so eingerichtet, dass sie hoch über dem Atlantik mit Champagner auf Luzies neues Leben als Erwachsene anstoßen konnten …
Die Frau klatschte begeistert in die Hände. »Tredici? Das ist ja Sant’ Antonio!«
Sonja stockte der Atem. »Antonio?« Sie sah die Frau entgeistert an.
»Jede Zahl von eins bis neunzig hat bei uns eine Bedeutung. Die Eins zum Beispiel ist Italia, die Neunzig la paura, die Angst, die Zweiundzwanzig o pazzo, der Verrückte, die Zweiundfünfzig die Mutter und so weiter. Und die Dreizehn ist eben Sant’ Antonio. Er ist der Schutzheilige der Reisenden und der Liebenden und hilft in allen Lebenslagen. Besonders aber, wenn man etwas verloren hat.« Sie nickte aufmunternd.
»Meine Tochter, also Luzia, ist an einem Dreizehnten zur Welt gekommen«, sagte Sonja mit belegter Stimme.
»Wie Sant’ Antonio! Dann wird er Ihnen bestimmt helfen.«
Als Sonja die Stufen wieder hinunterstieg, wusste sie nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Antonio, Schutzheiliger der Liebenden … Dann hilf mir gefälligst, meine Tochter wiederzufinden, dachte sie grimmig. Doch vielleicht musste man erst eine größere Spende abliefern, bevor ein Heiliger sich an die Arbeit machte.
In der Via Mezzocannone kam sie an einem Kino vorbei. Neben dem Eingang warb ein Schild für eine Sprachenschule namens Europa. Wenn wir schon bei den Zahlen sind, dachte Sonja: Aller guten Dinge sind drei, jedenfalls im Märchen.
Der hinter dem Kino gelegene Hof war schmutzig und düster. In einer Ecke stapelten sich schwarze Plastiksäcke, einige davon waren aufgeplatzt, Müll quoll hervor. Sonja dachte schon, sie hätte sich im Weg geirrt, dann entdeckte sie ein weiteres Europa -Hinweisschild: fünfter Stock, immer höher hinaus. Leider entpuppte sich der Kraftaufwand als verlorene Liebesmüh: Europa war eine reine Fremdsprachenschule. Man konnte Deutsch, Französisch, Englisch, Russisch lernen, sogar die skandinavischen Sprachen, aber kein Italienisch.
»Sie werden sie sicherlich finden«, sagte ein kleiner Mann, den Sonja angesprochen hatte und der, wie sich herausstellte, Spanisch und Portugiesisch unterrichtete. Sie schätzte ihn auf mindestens siebzig. Er wirkte gütig und lebensweise, aber Sonja hatte Mühe, Zuversicht aufzubringen.
Er gab ihr den Rat, es auf der Piazza San Domenico Maggiore oder der Piazza Bellini zu versuchen. »Da finden Sie jede Menge Cafés. Wenn Sie in Neapel jemanden suchen, dann setzen Sie sich am
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