Die Toten von Santa Lucia
sich, wird unansehnlich. Sie schwebt auf einer Wolke und hat nicht die geringste Lust abzustürzen. Das Kind in ihr ist ein Kind des Verliebtseins und zugleich seine ärgste Bedrohung, eine dunkle Wolke, eine Gewitterwolke. Sonja weiß nicht, ob Antonio Angst hat bei Gewitter. Noch nie in ihrem Leben war sie so glücklich mit einem Mann, aber sie hat Angst, von einem Moment zum anderen könnten seine dunklen Seiten sich offenbaren, denn jeder hat dunkle Seiten, von allen Charaktereigenschaften sind sie am allerbesten getarnt und werden manchmal ganz überraschend entlarvt, durch einen falschen Satz, eine falsche Geste, und dann fegen sie das Glück mit einem einzigen Handstreich vom Tisch, und es dauert so verdammt lange, bis das Hochgefühl wiederbelebt ist, wenn es überhaupt noch gelingt.
Am letzten Tag nimmt Sonja all ihren Mut zusammen. Antonio muss zurück nach Neapel. Er hat telefoniert und erfahren, dass er dringend etwas abliefern muss, einen Aufsatz oder ein Referat, Sonja wird nicht ganz schlau daraus, ob für eine Zeitung oder für das Examen, Antonio macht Andeutungen, aber als sie nachfragt, hat er eine scherzhafte Bemerkung parat und sie merkt, dass er nicht ins Detail gehen mag.
In den Monaten danach wird sie manchmal voll Bitterkeit und Wut denken, dass sich hinter dem mysteriösen »Artikel« garantiert eine Frau verbarg.
Antonio und Sonja reden in den Tagen und Nächten in Hamburg über vieles, aber nicht über die Zukunft und eigentlich auch nicht über das, womit sie sich beschäftigen, wenn sie nicht zusammen sind. Es gibt kein Gestern und kein Morgen, sie schmieden keine Pläne, sondern leben im beredten Glück der Gegenwart, ihrer Gegenwart, die nur ihnen beiden allein gehört. Da ist kein Platz für das in ihr wachsende Kind, das eine Zukunft braucht.
Sie sagt es ihm erst, als sie vor seinem Auto stehen. Nicht ganz auf die letzte Minute, aber fast.
Er sieht sie an: überrascht, ungläubig, unsicher, lächelnd, stirnrunzelnd, fragend, zärtlich, zögernd – wird sie später denken. Er kann nicht glauben, dass es wirklich wahr ist und stammelt immer wieder » Non è vero, dimmi che non è vero«. Und als sie immer wieder nickt und ihn nur ansieht, versinken sie in diesem gegenseitigen Blick, eine Ewigkeit lang, und halten die Nähe auf Distanz und verwandeln die Distanz in Nähe, und dazwischen vibriert das Glück.
Er sagt, dass er glücklich ist, felicissimo – aber später wird sie denken, Worte sind geduldig. Er küsst sie zärtlich, und seine Augen glänzen – aber der schönste Glanz wird stumpf, wenn er vernachlässigt wird. Und dann sagt er noch, er werde sich melden und sie solle auf sich aufpassen und alles wird gut – schon steigt er ins Auto und fährt winkend und hupend davon.
Diese Szene ist es, die sie all die Jahre versucht hat zu vergessen, und über lange Perioden ist ihr das auch gelungen, aber zwischendurch hat ab und zu die Erinnerung an die Scheibe geklopft, ganz leise, aber unüberhörbar, und alte Fragen wachgerüttelt. Denn Sonja kann sich Antonios Verhalten einfach nicht erklären. Sie ist unsicher, ob er sich über die Nachricht, Vater zu werden, gefreut hat oder eher nicht. Ob Angst in seinem stummen Blick lag, und wenn ja, ob es Angst vor der Zukunft war oder Angst vor der Verantwortung oder Angst um sie beide, um ihr Glück. Ob seine Zärtlichkeit ihr galt oder ob es eher eine letzte zärtliche Geste war – dem Glück hinterherzuwinken, bevor es um die Biegung des Lebens verschwindet. Sie kann diese Abschiedsszene nicht zufriedenstellend deuten, und das macht sie eine Zeitlang halb verrückt. Natürlich nicht sofort, ihre Wolke landet sicher und behutsam, erst nach zwei, drei Wochen, als das Warten beginnt. Jeden Morgen läuft Sonja mit flatterndem Herzen zum Briefkasten. Jedes Klingeln des Telefons weckt ihre Hoffnungen, und im selben Atemzug lauert schon die Enttäuschung. Sie häufen sich zu einem Riesenberg an, diese Nadelstiche der Enttäuschung, und begraben nach und nach die Hoffnung unter sich. Ihre Mutter hätte gesagt: »Da muss man durch.«
Im siebten Monat bekommt Sonja Blutungen, muss konsequent liegen, darf nicht mehr aufstehen. Auch rückblickend ist das die schlimmste Zeit ihres Lebens, denn sie würde sich so gern ablenken, sich bewegen, die Gedanken an Antonio vertreiben. Denn er meldet sich nicht. Er meldet sich einfach nicht.
Maris redet mit Engelszungen und Teufelsgeduld. Sonja soll endlich noch einmal bei dieser blöden Nummer in
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