Die Toten von Santa Lucia
Nachhinein wusste Gentilini, dass er und Rosaria sich schon lange mit einer Illusion eingelullt und betäubt hatten, der Illusion der heilen Familie. Die Ehe und die Illusion waren kurze Zeit nach dem Tag zerbrochen, als Giorgio mit einem blauen Auge und einem ausgeschlagenen Zahn aus der Schule gekommen war. Damals hatten sie alle zusammen noch im Centro Storico gewohnt, nicht weit von der Piazza Dante. Zwei Gleichaltrige hatten Giorgio nach dem Unterricht aufgelauert und ihm stellvertretend für seinen »Bullen-Vater« einen Denkzettel verpasst. Der Vater eines der Jungen saß wegen schwerer Körperverletzung in Untersuchungshaft, der Vater des anderen war der Kripo als Schutzgeldeintreiber bekannt.
Als kurzfristige Lösung hatten sie Giorgio in einer Privatschule untergebracht, aber der Bruch war unvermeidlich gewesen. Bald darauf hatten Rosaria und Gentilini sich getrennt.
Santa Luci-hi-hi-hi-a …
»Und … wie alt ist sie?«, dröhnte plötzlich Stefano Di Maios Stimme hinter ihm.
Gentilini fuhr zusammen. »Ste, also wirklich …«
»Neuerdings schreckhaft? Das ist alles die Midlife Crisis«, plapperte sein Kollege fröhlich. »Auch beim Mann kommt irgendwann der ganze Hormonhaushalt ins Rutschen. Sozusagen auf die schiefe Bahn.« Er grinste hinterhältig. »Du hast die ultimative Chance, nochmal ein ganz neuer Mensch zu werden. Dich mit Cava anzufreunden. Dich zu einem Mann zu mausern, den die Frauen lieben.«
»Hat Stefania dir das eingeredet?« Stefania war Stefanos Frau, aber wenigstens hatten sie für ihre fünf Kinder andere Namen ausgesucht.
»Nein, mein großer Bruder.«
»Der war schon immer ein bisschen abgedreht.«
»Stimmt. Aber ältere Brüder haben trotzdem meistens Recht.«
»Da bin ich aber froh, dass ich nur eine ältere Schwester habe«, grinste nun auch Gentilini.
»He, wir sind ganz vom Thema abgekommen. Raus mit der Sprache, wie alt ist sie?«
»Keine Ahnung«, sagte Gentilini abwehrend. »Ende dreißig oder so. So was fragt man Frauen nicht.«
Gentilini begann den internen Posteingang durchzusehen.
Er und Di Maio kannten sich schon eine Ewigkeit und hatten sich in diversen privaten Unwettern gegenseitig aus der Patsche geholfen. Aber alles musste Stefano nun auch nicht mitbekommen. Zum Beispiel, dass diese Frau, die Lion ihm geschickt hatte, diese Sonja Zorn, ihm verdammt noch mal nicht aus dem Kopf ging. Und nicht nur sein Kopf war davon betroffen. Aber mit der Gier nach einer Fünfundzwanzigjährigen hatte das alles nicht das Geringste zu tun.
Zuoberst lagen die Ergebnisse der Gerichtsmedizin bezüglich der Hafenleiche. Der Commissario begann in dem Bericht zu lesen, wurde aber von seinem Kollegen unterbrochen.
»Ach ja, bevor ich’s vergesse. Massone rief gestern Abend an, als du schon weg warst«, sagte Di Maio. »Er hat mit der Ehefrau gesprochen. Offenbar hatte ihr Mann ein paar Tage vorher erfahren, dass er unheilbar krank war.«
Der Bericht des Pathologen wies in dieselbe Richtung. Keine Fremdeinwirkung. Gentilini und Di Maio sahen sich an.
»Wenigstens ein Fall weniger.«
»Die beiden Killer aus den Quartieri?«
»Basile ist an der Sache dran.«
»Scampia?«
»Das Übliche. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.«
»Alles verdächtig ruhig heute.«
»Bisher jedenfalls …«
Gentilini sah auf die Uhr. Kurz nach acht. Zeit für einen Espresso. Um neun war Besprechung. Er griff nach dem Telefonhörer. Die Tür ging auf. Massones Kopf tauchte im Türspalt auf.
»Auch einen caffè?«
»Warum nicht.« Umberto Massone schlüpfte herein und schloss die Tür. Anders als sein Name vortäuschte, war er klein und schlank und für körperliche Auseinandersetzungen kaum geeignet, was er durch sein geradezu enzyklopädisches Wissen und seinen treffsicheren Umgang mit Waffen mehr als kompensierte. Er teilte sich normalerweise drei Türen weiter ein Zimmer mit Commissario Coppola, aber seit Coppola wegen seines Bandscheibenschadens ausfiel, hatte Massone das Zimmer für sich allein.
»Ganz schön einsam drüben, eh?«, sagte Di Maio. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Massone schnalzte mit der Zunge. »Gewährt ihr mir für zehn Minuten Exil?«
»Hast wohl Schiss, dass Cava mit dir einen Espresso trinken will«, frotzelte Gentilini.
Massone rollte mit den Augen. »Der gibt einfach keine Ruhe. Ständig kommt er rein und labert mich voll und hält mich vom Arbeiten ab. Und ich Idiot hör mir seine Storys auch noch an.«
»Du musst einfach
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