Die Toten von Santa Lucia
die fast vier Wochen unterwegs war. Auf der Vorderseite das Panorama von Neapel mit Vesuv, Meeresblick mit Pinie, auf der Rückseite zwei, drei Sätze und ein neapolitanisches Gedicht von Totò, das sie zunächst nicht versteht, sich später übersetzen lässt, sogar auswendig lernt und inzwischen längst vergessen hat.
Ein Gruß aus einer Welt südlich der Alpen und eine kaum leserliche Unterschrift samt Kuss: Bacio Antonio Di Napoli. Kein Absender natürlich, auf Postkarten ist kein Platz für Adressen.
Gegenwart, nichts als Gegenwart. Ein Auto hupt vor dem Haus, Sonja bezieht es nicht auf sich. Das Klingeln an der Wohnungstür könnte genauso gut für Maris sein, doch die Worte im Rauschen der Gegensprechanlage klingen italienisch … Ungläubig öffnet sie die Tür, und Augenblicke später steht Antonio schon vor ihr, und als sie ihn sieht, weiß Sonja, dass sie sich genau diese Szene, diese kitschige Szene, klammheimlich ausgemalt hat, so heimlich, dass sie es sogar vor sich selbst geschickt verborgen hat: Sie öffnet irgendwann die Tür, und er steht da … Trotzdem fällt sie aus allen Wolken, ist überrascht und auch ein wenig schockiert. Da ist der befremdende Impuls, ihm zur Begrüßung die Hand zu schütteln wie einem fernen Bekannten. Die Wirklichkeit ist oft karger als die Phantasie, strenger, schnörkelloser. Es herrschen andere Gesetze, andere Stimmungen. Doch, sie freut sich, sehr sogar, aber sie muss sich erst zu ihm durchtasten. Die Wohnung in der Weidenallee ist nicht der Strand an der Lagune von Venedig. Auch das Licht ist anders, der Duft in der Luft. Sie kennen sich eigentlich gar nicht, nur ihre Körper hatten sich eine Nacht lang ineinander verflochten. Dieses Ungleichgewicht gilt es auszuhalten. Sie müssen sich neu kennen lernen, falls es überhaupt so weit kommt, falls sie sich nicht doch zu fremd sind.
Aber es geht unglaublich schnell. Sonja zeigt Antonio die Alster, die Speicherstadt, den Hafen, sie laufen zu Fuß vom Baumwall über den Fischmarkt bis zur Övelgönne. Es ist Anfang Februar, einer dieser typisch nasskalten Winter ohne Schnee und Eis, dafür mit viel Regen und grauem Himmel. Am Baumwall kauft Antonio sich einen dicken Seemannspullover und lässt sich von Sonja beraten. Sie reden viel, diskutieren über Politik, zwischendurch schweigen sie, ein gutes Gleichgewicht. Sonja ist froh, dass Antonio keine Nähe erzwingt, bevor sie nicht als Sehnen und Vibrieren zwischen ihnen spürbar ist – das hat sie schon anders erlebt, Typen, die nicht abwarten können, die kein Gespür haben für den richtigen Zeitpunkt, die den Flügeln der Lust Gewalt antun, noch bevor sie sich überhaupt entfalten können.
Drei Tage lang streifen sie zusammen durchs Leben, durch Sonjas Leben. Vorlesungen, Seminare und andere Verpflichtungen werden kurzfristig storniert. Sonja und Antonio gehen auf den Isemarkt zum Einkaufen. Sie fahren für einen Tag an die Nordsee nach Sankt-Peter-Ording, stemmen sich am Strand gegen den eisigen Wind. Sie hören sich zusammen die Canzoni der Nuova Compagnia di Canto Popolare an, die Antonio mitgebracht hat. Sie zeigt ihm ihre Lieblingskneipen und Lieblingsorte in Hamburg. Antonio stellt sich an den Herd und kocht Pasta, und sie machen Witze darüber, dass seine Penne all’arrabbiata nicht al dente sind und dass er vergessen hat, Peperoncino an die Sauce zu geben, weshalb die Penne all’arrabbiata eben nicht wütend sind, sondern sanftmütig und eigentlich Penne della dolcezza heißen müssten. Am nächsten Abend telefoniert Sonja so lange herum, bis sie ein Restaurant findet, das frischen Labskaus auf der Speisekarte hat. Antonio will unbedingt angeln gehen, Sonja ruft einen Freund ihrer Mutter an, der ihnen seine Angel leiht – »auf eigene Gefahr« –, sie werden nicht erwischt, kein Fisch beißt an, aber es ist schön, stumm zusammen am Wasser zu stehen. Wenn man verliebt ist, glänzt das Leben aus jeder Perspektive. Drei Nächte lang haben sie die Wohnung für sich allein, denn Maris hat sich sofort nach Antonios Ankunft augenzwinkernd zu ihrem aktuellen Lover verzogen. Es sind neue Nächte, diesmal ohne Sand und Sterne.
Sonja ist im fünften Monat, aber dass sie schwanger ist, sieht nur, wer es weiß. Von Tag zu Tag wächst in ihr der Wunsch, es Antonio zu sagen – und von Tag zu Tag wird es schwerer. Der banale Satz, den sie sich jeden Morgen beim Aufwachen neu zurechtlegt und dann doch nicht über die Lippen bekommt, erhält immer mehr Gewicht, verformt
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