Die Toten von Santa Lucia
Antonio sein sang- und klangloses Verschwinden auch nach zwanzig Jahren nicht verziehen hatte. Aber das war nur die eine Hälfte des Schmerzes, den Sonja spürte, während draußen die nächtliche Stadt rumorte und hupte und geiferte.
Die andere Hälfte galt dem Glück.
Sie hatte zwanzig Jahre lang mit aller Macht vergessen wollen, wie glücklich sie damals mit Antonio gewesen war. Wie vollkommen die drei Tage mit ihm gewesen waren, innig, wunschlos, prall mit Leben und Gegenwart. Dieses Gefühl von Einssein mit Zeit und Raum und dem anderen und sich selbst hatte sich nie wiederholt, mit keinem der Männer, mit denen sie in all den Jahren danach zusammen war, nicht mit Manuel, nicht mit Hendrik, nicht mit Hanspeter, Vincent, Sebastian. Die Männer konnten nichts dafür – es ging einfach nicht. Die Brücke war eingestürzt. Sonja stand immer auf der jeweils anderen Seite des Ufers.
Jetzt aber spürte sie, wie das Glück und der Schmerz von damals ihr bis zum Halse stiegen, und sie blieb ganz still liegen und ließ sich treiben, ließ sich erfassen von den Strudeln der Erinnerung und fortschwemmen, von einem Ufer zum anderen. Es war quälend, aber gleichzeitig fühlte sie sich wie befreit.
Kurz nach sechs. Die Stadt schien seltsamerweise endlich in den Schlaf gefunden zu haben, vielleicht durch das Gezwitscher der Singvögel, die in ihren Käfigen erwacht waren. Sonja stand auf, zog sich an und schlich auf Zehenspitzen aus der Pension.
14
Commissario Gentilini wohnte im westlichen Teil der Quartieri Spagnoli, auf halber Strecke zwischen der Via Chiaia und dem Corso Vittorio Emanuele. Nach der Scheidung war seine Frau mit den beiden Kindern in einen Neubau auf dem Vomero gezogen. Er hingegen hatte das dringende Bedürfnis gehabt, sich abzuschotten, einzuigeln. Aber wo war das in dieser rund um die Uhr rotierenden Stadt schon möglich? Im Auge des Sturms, hatte er beschlossen und nach längerer Suche eine Wohnung mit Dachterrasse in einer umgebauten Lagerhalle gefunden, die gut versteckt mitten zwischen den Häuserwürfeln der Quartieri lag. Früher hatte die Halle eine Konfektionsschneiderei beherbergt, aber die Besitzer mussten den Betrieb aus Altersgründen aufgeben und ließen die Halle in zwei Wohnungen umbauen, von denen Gentilini die obere bewohnte. Es gab vier Zimmer, je eins für die beiden Kinder und eins zum Wohnen, eins zum Schlafen. Über eine Wendeltreppe gelangte man auf die Dachterrasse, die sich über die gesamte Fläche der Wohnung erstreckte. Die Aussicht von dort war atemberaubend schön – leider auf den Vomero, nicht auf den Golf von Neapel, was Gentilini bedauerte, aber was war im Leben schon perfekt.
Von der Wohnung aus konnte er zu Fuß zur Arbeit gehen, und für Giorgio und Isabella waren es nur zwei Stationen mit der Funicolare. Gentilinis Exfrau Rosaria, die aus einem Dorf im Hinterland Neapels stammte, hatte den Kindern anfangs kategorisch verboten, ihren Vater in dieser Verbrechergegend, wie sie es nannte, zu besuchen. Das Verbot hatte allerdings nur kurzen Bestand – Gentilini kannte einen der zuständigen Richter. In mancher Hinsicht funktionierten die Ämter und Verwaltungsabteilungen dieser Stadt sehr wohl.
Gentilini summte am Schreibtisch vor sich hin. Seit er auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt das Lied von Santa Lucia angestimmt hatte, ging ihm die Melodie nicht mehr aus dem Sinn. Sie wurde allmählich zu einem Ohrwurm, deshalb versuchte er, sie durch andere Melodien zu ersetzen, Era di maggio, der Jahreszeit entsprechend, er probierte auch Malafemmena und Torna a Surriento, aber Santa Lucia drang immer wieder durch, hartnäckig wie ein Blutfleck, den ein Mörder vergeblich zu übertünchen versucht.
Was für abartige Bilder du im Kopf hast, Gennaro, sagte er sich. Dein Beruf macht dich langsam krank. So ähnlich hatte es vor vielen Jahren Rosaria formuliert, er hatte den Satz nie vergessen. Nur hatte sie hinzugefügt, dass er außerdem sie krank mache, sie und die Kinder, mit seiner verbissenen Arbeit für eine Gerechtigkeit, die es sowieso nicht gab, und dass er sie in den Verbrechersumpf mit hineinziehe und ihrer aller Leben riskiere …
Rosaria hatte nie verstanden, weshalb er diesen Job machte, aber solange er regelmäßig Geld nach Hause brachte, wenigstens ab und zu abends zum Essen heimkam, sonntags für den Familienausflug zur Verfügung stand und zweimal im Monat mit ihr schlief, war alles in Ordnung gewesen. Zumindest hatten sie beide so getan. Im
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