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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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Luxus-Ventilator von Manufactum eine Chance gehabt. Das Gemisch aus Martini und Weißwein und Grappa hatte das Karussell losgetreten, vielleicht waren auch Gentilinis Augenflecken daran nicht unbeteiligt, und nun rannten und rannten die Gedanken immerzu rückwärts im Kreis wie das verrückte Renn-Tier in Paul Maars Geschichte von der Tür auf dem Dachboden, die Sonja Luzie früher oft vorgelesen hatte, und waren nicht zu bremsen und ließen keine Station dieser alten Geschichte aus, keine einzige, und jede wurde wieder Gegenwart.
    Der Strand am Lido von Venedig. Antonio holt seine Gitarre heraus und stimmt Bella ciao und O sole mio an und andere Songs, die Sonja und Maris noch nie gehört haben, wahrscheinlich Lieder aus Neapel, denn sie verstehen den Text nicht. Zu Bella ciao können sie den Refrain mitsingen und zu O sole mio Elvis Presleys It’s now or never … Sie kommen sich ein bisschen lächerlich vor, als sie, sozusagen als kleine Gegengabe, den Hamburger Veermaster anstimmen und Auf der Reeperbahn nachts um halb eins und in einer überdreht veralberten Variante Freddys Rolling Home. Antonio sieht Sonja die ganze Zeit über unverwandt durch seine dunkel umrandete Brille an, er hat dunkle Augen, dieselben dunklen Augen wie später Luzie, und dunkle, lockige Haare. Er ist kein Riese, Italiener sind selten riesig, aber für Sonjas eins zweiundsiebzig reicht es, außerdem spielen solche Maßstäbe nachts an südlichen Stränden und noch dazu im Liegen keine wesentliche Rolle. Er ist muskulös, seine Stimme sanft, und seine Augen haben Sonja schon verführt, lange bevor sie sich später im Sand lieben. Es ist eine Nacht der Sterne, des Südens, sie hören nichts als das Plätschern der Wellen am Ufer, ab und zu von fern Gelächter, das Bellen eines Hundes, und ihrer beider Atmen, Flüstern, Stöhnen, das Rieseln von Sand.
    Luzie ist ein Kind von Sand und Muscheln, Wasser und Wellen und Liedern und Sternen. Als der Schwangerschaftstest acht Wochen später eindeutig anzeigt, wie es um die Hormonlage in Sonjas Körper bestellt ist, zögert Sonja nicht eine Sekunde. Da ist kein Zwiespalt, der sie blockiert, kein Abgrund, in den sie stürzt. Es gibt keinen Zweifel. Klar, in anderen Situationen schwingt sie überzeugte Reden zum Thema Kinder, Frauen, Abtreibung, theoretisch, vom feministischen Standpunkt aus betrachtet – aber sie ist ja nicht in Not, kann sich frei entscheiden. Sie ist jung und gesund und lebensfroh und will das Kind bekommen und großziehen und trotzdem studieren und ist sicher, sie wird es schaffen, ganz allein. Keinen Augenblick baut sie dabei insgeheim auf die Hilfe ihrer Mutter. Sonjas Vater ist schon lange tot, er starb, als Sonja dreizehn war, damals musste die Mutter sich wieder eine Arbeit suchen, Sonja ist daran gewöhnt, mitzuhelfen und zuzupacken und das Leben mehr oder weniger allein zu meistern. Es gefällt ihr so, sie ist ungern auf andere angewiesen.
    Antonio ist in diesem Moment höchstens ein fernes Echo der Nacht am Strand von Venedig, das in ihrem Kind weiterleben wird. Sonja hat nicht einmal seine Adresse, nur diese Telefonnummer, bei der sie eines Nachts anruft, als Sentimentalität und Übelkeit sie wachhalten, und als sich durch fernes Rauschen eine Frauenstimme meldet – »Chi è? Chi parla? Ma chi è, porca madonna?!« – legt sie schnell wieder auf. Ihr Herz klopft, schnell redet sie sich ein, es sei die Mutter gewesen, solche Stimmen haben nur Mütter oder Großmütter, vielleicht eine Tante. Sie denkt, dass sie sich verwählt hat, aber sie versucht es kein zweites Mal.
    Nein, sie läuft keinem hinterher, aber die Wippe der gegensätzlichen Gefühle ist ohne Pause in Aktion: Auf der einen Seite hockt die Enttäuschung und auf der anderen der Stolz, der gesenkte Kopf und der hoch erhobene, auf und ab geht es, auf und ab, Sonja wird ganz schlecht von dem Gewippe, zweimal muss sie ins Badezimmer laufen und sich übergeben. Am nächsten Morgen ist sie entsprechend erschöpft, aber wenigstens ihre Gedanken sind nun klar. Sollte diese keifende Frauenstimme am Telefon Antonios Freundin gewesen sein – oder seine Frau, denn was weiß Sonja schon über ihn und sein Leben –, dann wäre das Anlass, Neapel für immer zu vergessen. Nein, Sonja drängt sich nicht auf und macht keine anderen Beziehungen kaputt. Sie wird sich ganz auf sich selbst besinnen, auf das eigene Leben, das in wenigen Monaten ein doppeltes sein wird.
    Zwei Tage später liegt die Postkarte im Briefkasten,

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