Die Toten von Santa Lucia
Neapel anrufen, damit der Spuk ein Ende hat.
Aber sie kann nicht. Der Stolz ist ein Gebirge, das sie nicht überwinden kann. Die Luft ist zu dünn, Stolz, Angst, Sehnsucht, Enttäuschung schnüren ihr die Kehle zu.
Also hängt Maris sich ohne Sonjas Wissen ans Telefon. Die Verbindung ist schlecht, wieder ist eine Frau am Apparat, und als Maris nach Antonio fragt, schreit sie irgendetwas, das Maris nicht versteht, schimpft und schreit und tobt, und alle Laute vermischen sich in der knackenden, rauschenden Leitung, Maris versteht nur, dass Antonio nicht mehr da ist, »se n’è andato«, keift die Frau, »dove?«, schreit Maris, doch da wird der Hörer auf die Gabel geknallt. Aha, ausgezogen also. Wohin? Ein zweites Mal ruft Maris nicht an. Sie ringt mit sich, ob sie der Freundin überhaupt von dem Ferngespräch erzählen soll, aber als Sonja von Tag zu Tag stummer und blasser wird, beschließt Maris, den Prinzen zu entthronen. Sie erzählt von ihrem Gespräch mit der Frau, die am Telefon ganz außer sich war, und dass Antonio dort ausgezogen und unter dieser Nummer nicht mehr zu erreichen ist.
Ein letztes Aufbäumen: Vielleicht, hofft Sonja wider besseres Wissen, hat Antonio sich ihretwegen von der Frau getrennt und wird sich in den nächsten Tagen melden. Sie kämpft und schluckt die Tränen und die Wut herunter, ihr Bauch wird immer dicker, das Kind wächst, aber von Antonio kein Lebenszeichen. Und eines Morgens hat Sonja es geschafft: aufzuwachen aus dem kurzen Traum, sich Antonio auszureden, ihn und die Nacht in Venedig und die Zeit in Hamburg und sein letztes Versprechen. Kaum hat sie diesen Schritt innerlich vollzogen, hören wundersamerweise auch die Blutungen auf, und einen Monat später kommt ihre Tochter zur Welt, die sie Luzia nennt.
Als Sonja nicht lange nach der Geburt einen großformatigen wattierten Briefumschlag im Briefkasten findet und sieht, dass er aus Neapel stammt, packt sie der Zorn. Der Gedanke blitzt auf, die Sendung postwendend im Müll zu entsorgen. Nur weg damit! Aber die Neugier ist größer. Sie öffnet den Umschlag und wirft einen Blick hinein – ist es ein Brief, ein langer Brief, mit Fotos und einem Gedichtband, einem Geschenk? Was sie findet, sind nichts als Fotokopien, an die hundert Seiten, irgendwelche nichtssagenden Berichte und Artikel, kein einziges persönliches Wort! Nichts, keine Zeile, keine Postkarte. Leises Gewimmer, Luzie ist aufgewacht und ruft nach ihr – Sonja schiebt den Umschlag voller Verachtung hinter den Kleiderschrank. Antonio ist für sie gestorben, die ganze Sache endgültig vorbei und ausgestanden.
Als sie zwei Jahre später in eine andere Wohnung zieht und den Schrank wegrückt, taucht der Umschlag wieder auf. Kurzerhand packt Sonja ihn mitsamt der Vesuv-Postkarte und zwei schlecht ausgeleuchteten Gruppenfotos vom abendlichen Stelldichein am Strand in einen kleinen braunen Handlederkoffer, in dem sie als Kind Puppenkleider aufbewahrte und für den sie schon lange keine Verwendung mehr hat, und den Koffer in einen Umzugskarton. Sie hat keine Zeit, sich zu fragen, ob sie das alte Zeug wirklich aufheben will oder nicht. Derlei Fragen sind sekundär, verlangt wird ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Ihre kleine Tochter ist nonstop auf Entdeckertour und begleitet dies mit viel Geplapper und Gejuchze. Wenn Luzie in der Unikrabbelstube ist, besucht Sonja Seminare oder sitzt in der Bibliothek oder kauft Windeln und Lebensmittel ein. Ein-, zweimal hat sie sich sogar an einen Flirt herangewagt, aber ihr Herz ist anderweitig belegt, lockere Beziehungen sind physisch wie psychisch das Maximum an männlicher Nähe, das sie verkraften kann. Die wenigen Spuren aus Antonios Leben landen also auf dem Dachboden. Und dort bleiben sie auch, bis Luzie sie aufstöbert und dem Fund nachzugehen beginnt …
Sonja lag stocksteif auf dem Bett und starrte zur Decke. Es war ihr eben doch nicht gelungen, die Zeit mit Antonio durch zwanzig Jahre konsequentes Verdrängen zunichte zu machen. Sie hatte das damalige Glück doppelt begraben, in ihrem Herzen und auf dem Dachboden, doch es war all die Jahre hindurch nur scheintot gewesen und hatte auf den Kuss der Prinzessin gewartet, und Luzie war gekommen und hatte die Dornenhecke mühelos überwunden und den Koffer gefunden und geöffnet. Dann war sie davon gehüpft, hinaus in die weite Welt, um ihren Vater zu finden, den ihre Mutter ihr unterschlagen hatte. In Sonja aber war die alte Wunde wieder aufgebrochen. Sie wusste nun, dass sie
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