Die Toten von Santa Lucia
autoritärer werden.«
»Hättest du lieber den ganzen Tag mit unserem neuen Sturkopf aus Bozen zu tun? Oder wie wär’s mit Ispettore Piselli?«
Massone verschränkte die Arme hinter dem Nacken. »Am nächsten Tag quittiere ich den Dienst, das sage ich euch.« Seine Augen verengten sich. »Apropos Piselli … Ich hab da einen Hinweis bekommen, dass wir das Fiasko mit Vitale möglicherweise ihm zu verdanken haben …«
Bei Luigi Vitale waren die Fäden des Drogenhandels an fast zwanzig Schulen zusammengelaufen. Er versorgte die zum Teil erst zwölf-, dreizehnjährigen Dealer mit Heroin, Kokain und Crack, bei ihm lieferten sie ihren Gewinn ab und verdienten dabei bis zu dreitausend Euro im Monat. Nach fast zwei Jahre dauernden, aufreibenden Recherchen hatte das Team um Massone ihn im März fast an der Angel gehabt. In mühsamer Kleinarbeit war es ihm gemeinsam mit Coppola und Cava gelungen, zwei der Jungs zu einer Aussage gegen Vitale zu überreden. Was nicht leicht gewesen war. Man schlug sich nicht auf die Seite der Polizei, außerdem lockte das leichte Geld. Auszusteigen hieß außerdem, auf Prestige und Coolness zu verzichten. Als Belohnung winkte so gut wie nichts, jedenfalls in den Augen der Jugendlichen. Allenfalls eine andere Art von Coolness – dass man den Leuten wieder gerade in die Augen sehen konnte. Und die Aussicht auf einen Job, dafür hatte Massone gesorgt, denn sonst konnte man die Sache gleich vergessen.
Allein schon der Haftbefehl war ein riesiger Erfolg gewesen – nur war Vitale leider seiner Verhaftung entgangen, um Haaresbreite. Irgendwer hatte ihn gewarnt. Und dieser Irgendwer musste definitiv aus den Reihen der Kriminalpolizei stammen. Zumindest das hatte Coppola noch herausgefunden und Massone mitgeteilt, bevor seine Bandscheibe ihn komplett lahm gelegt hatte. Massone war der Sache offenbar nachgegangen.
»Mehr kann ich im Moment noch nicht sagen, aber ich bin nah dran«, sagte Massone. Dann grinste er. »Nur damit ihr’s wisst: Ihr seid die Einzigen, denen ich bisher davon erzählt habe. Wenn Piselli untertaucht, weiß ich wenigstens, wer ihm einen Tipp …«
Das Telefon klingelte. Gleichzeitig klopfte es an der Tür. Massone sprang auf, um zu öffnen, Gentilini nahm den Hörer ab, Di Maio kramte ein Eurostück aus der Hosentasche.
»Schon wieder im Plastikbecher?«, hörte Gentilini im Hintergrund die dröhnende Stimme seines Kollegen, während er der Hiobsbotschaft im Hörer lauschte. Er machte sich Notizen. Als er aufgelegt hatte, sagte Di Maio gerade zu Massone:
»Was schätzt du, wie viel ich noch zahlen muss, bis er uns den Espresso in anständigen Tassen bringt, he? Fünf Euro, zehn Euro?«
Massone zuckte die Achseln. »An deiner Stelle würde ich erst hinterher löhnen.«
Di Maio lachte. »Das ist genau der Unterschied zwischen uns: Ich gebe einen Vertrauensvorschuss und du einen Vorschuss an Misstrauen.«
»Das ist ja wohl die Höhe«, empörte sich Massone, »habe ich euch vorhin von meinem Verdacht erzählt oder nicht …«
»Ein Toter in Santa Lucia«, unterbrach Gentilini genervt. »Via Palepoli. Wer fährt hin?«
Umberto Massone nickte. »Ci vado io. Aber kein Wort zu Cava!«
»Ehrenwort«, sagte Di Maio. »Beim Zopf meiner Urgroßmutter.«
»Ich komme mit«, sagte Gentilini unvermittelt. Er brauchte frische Luft und dachte, dass er diese verdammte Melodie in seinem Hirn vielleicht am besten an Ort und Stelle los wurde.
Drei Stunden später wusste er, dass er intuitiv die richtige Entscheidung getroffen hatte. In seinem Hinterkopf kreisten jetzt keine Tonfolgen mehr, jetzt machte ihm vielmehr eine zufällige Entdeckung Kopfzerbrechen, die sie bei der Leiche gemacht hatten, eine merkwürdige Koinzidenz … Von da an versuchte er stündlich, Sonja in ihrer Pension zu erreichen.
15
Das Licht fiel frühmorgens anders, milder, jünger, verdünnt von den Schatten der Nacht. Die Rollläden waren noch vor den Geschäften heruntergelassen. Die Müllabfuhr rumpelte durch die Straßen und lud die vor Häusern und Läden aufgetürmten Müllsäcke ein; trotzdem blieb viel Abfall liegen, in dem Hunde und Katzen nach Futter wühlten. Kaum jemand war um diese Uhrzeit unterwegs, nur zwei Bars hatten geöffnet. Sonja trank im Stehen einen Espresso. Das Cornetto war noch ofenwarm.
Die Stadt schien ein anderes Gesicht zu haben als am Tag zuvor und am Tag der Ankunft. Alles wirkte offener, freier, noch unbeschrieben und wie zu jeder Schandtat bereit. Sicherlich, jede Stadt
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