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Die Toten von Santa Lucia

Die Toten von Santa Lucia

Titel: Die Toten von Santa Lucia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Krohn
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war stets auch der Spiegel dessen, der sich in ihr aufhielt, sie benutzte oder auch nur kurz durchquerte. Der Zwischenfall vor der Kirche schien Jahre zurückzuliegen. Sonja war an diesem Morgen bester Dinge und bereit, Neapel ein wenig zu mögen, und wie so oft, wenn einer sich bewegt, bewegt sich auch der andere: Die Stadt kam ihr gewissermaßen mit freundlicher Miene entgegen.
    Der banale Grund für die Veränderung aber war die morgendliche Leere. Die Häuser hatten noch nicht ihre Bewohner und deren zwei- und vierrädrige Krachmacher in die Gassen ausgeschüttet. Der Blick irrte noch nicht wie ein besoffenes Insekt von Schaufenster zu Schaufenster, von Bancarella zu Bancarella, sondern hatte Auslauf – Manege frei für die altehrwürdigen Häuser und Palazzi, den Stuck an den Gesimsen, die kunstvoll geschmiedeten Balkongitter, die dunkelroten, gelben, in Dutzenden von Zwischentönen abblätternden Fassaden, die handtuchschmalen Durchgänge zwischen den Läden, die zu Innenhöfen mit frei stehenden Treppenhäusern führten, die aus dem Stand als Kulisse für einen Film dienen konnten.
    Sonja lief über die Piazza Municipio und am Maschio Angioino vorbei zum Teatro di San Carlo. Sie sah sich die Szenenfotos an, im Mai stand unter anderem »Il matrimonio segreto« von Cimarosa auf dem Spielplan. Sie könnte versuchen, eine Karte zu bekommen – oder sogar zwei, dachte sie, als sie an der monumentalen Vorderseite des Palazzo Reale in Richtung Wasser lief, vielleicht hatte der Commissario Lust, sie zu begleiten. Er war wesentlich sympathischer, als sie am Flughafen auf den ersten Blick vermutet hatte.
    Das Viertel unten am Meer, in der Armbeuge des Lungomare gelegen, hieß Santa Lucia. Am Abend zuvor hatten sie dort gegessen, in einem unprätenziösen Restaurant auf dem Borgo Marinaro – so hieß die kleine Insel vor dem Küstenstreifen von Santa Lucia, auf der sich die wuchtige Burg Castel dell’Ovo erhob. Eine Brücke führte zu der Insel hinüber, die nur etwa hundert Meter vom Festland entfernt war. Dort waren im neunten Jahrhundert vor Christus Griechen aus Rhodos mit ihren Schiffen gelandet und hatten den Grundstein für Partenope gelegt, woraus später Neapel entstand, hatte Gentilini erzählt. Die Insel hieß ursprünglich Megaride, und der römische General Lukull ließ dort eine luxuriöse Villa bauen, in der Vergil nach dessen Tod vierzehn Jahre lang lebte und dichtete.
    Mit schwallartig ausgeschüttetem Wissen war Sonja seit langem nicht mehr zu beeindrucken. Männer, die am liebsten sich selbst reden hörten und andere mit Worten zupflasterten, hatten bei ihr mittlerweile schlechte Karten, selbst wenn das, was sie erzählten, interessant war. Hätte Gentilini, der sich offenbar in der Geschichte der Stadt auskannte, sie gestern Abend lang und breit durch die Jahrhunderte Neapels genötigt, könnte Sonja auf jede freiwillige Begegnung mit ihm gut und gern verzichten. Früher hatte sie sich zu Großrednern eher hingezogen gefühlt und maximal die Stichworte geliefert. Zwei Verflossene der letzten Jahre hatten zu dieser Sorte Privatdozenten gehört, belesen, bestens informiert, aber gänzlich unempfindlich für die Befindlichkeiten ihres Gegenübers. Mittlerweile hatte Sonja diese Sorte Männer satt – und nicht nur diese Sorte.
    Einmal hatte sie zu Maris gesagt: »Was Männer angeht, komme ich mir vor wie beim Einkaufen im Supermarkt: Ich stehe ratlos vor der Wurst- und Käsetheke, weil nichts mich wirklich anspricht.«
    »Wir haben das meiste eben schon durchprobiert«, hatte Maris gegrinst, die für ihr Leben gern aß und kochte. »Wir werden immer wählerischer.« Der Schatz der Erfahrungen war eben auch ein Fluch.
    Wenn wieder einmal aus einem zunächst vielversprechenden Rendezvous nichts geworden war, pflegten Sonja und Maris seither zu sagen: »Wieder mal zu wählerisch gewesen …«
    Gentilini aber hatte die Kurve rechtzeitig gekriegt. Auf dem Rückweg zu seinem Auto hatten sie überhaupt nicht mehr geredet. Es war zwar kein entspanntes Schweigen gewesen, aber auch kein verlegenes. Ein Pluspunkt für ihn, dachte sie jetzt. Nichts zu mäkeln. Noch nicht. Abwarten.
    Sie lehnte am Geländer der Uferpromenade, blickte auf die wuchtigen Mauern des Castel dell’Ovo, die in der Morgensonne golden strahlten. Fischerboote steuerten mit knatternden Außenbordern zurück in den kleinen Hafen. Zwei Angler warteten auf einen Fang, aber wahrscheinlich warteten sie nicht wirklich, sondern füllten sich mit

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