Die Toten von Santa Lucia
dem für jeden anders schimmernden Morgenelixier. Die Touristen in den Luxushotels am Lungomare schliefen noch.
Vor der Villa Comunale bog sie rechts in die Gassen ein, überquerte die Piazza dei Martiri und fand sich in der Via Chiaia wieder. Hier reihte sich ein Geschäft ans nächste. Die Müllabfuhr war noch nicht durchgekommen, an den Straßenrändern stapelten sich Kartons und sonstiges Verpackungsmaterial. Sonja ging unter einem Torbogen hindurch. Linker Hand führte eine Gasse namens Gradoni di Chiaia steil bergan ins Gewirr der Quartieri Spagnoli.
Sonjas Blick blieb an einem riesigen goldenen Knopf hängen. Er prangte neben dem Namenszug der Ladenbesitzer, der in altmodisch geschwungenen Lettern auf einer schwarzen Glasplatte über dem Rollladen zu lesen stand: Belardini. Solche Läden waren in Hamburg schon lange aus dem Straßenbild verschwunden, Knöpfe kaufte man im Kaufhaus, wenn überhaupt. Sie ging weiter, las jetzt interessiert die anderen Namen über den Schaufenstern: Auriemma, Scorza, Onorato, Ricciardi – und in dem Moment sah sie es. Das Schild. Den Namenszug, wie beim Knopfgeschäft in altertümlich schnörkeligen Goldlettern auf schwarzem Grund. Ein Hutgeschäft, eines der wenigen Geschäfte ohne Rollläden. Di Napoli.
Sie starrte auf das Schild.
Nein, dachte sie. Das ist nicht möglich!
Di Napoli …
Wie hatte sie nur so blind sein können! Natürlich, Antonios Nachname. Antonio Di Napoli, so hieß er wirklich, und so hatte es auch auf der Postkarte gestanden. Er hatte nicht einfach als Antonio aus Neapel unterschrieben, sondern mit seinem vollen Namen.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Wieder und wieder las sie den Schriftzug über dem Hutgeschäft, als wäre er ein Wegweiser, eine geheime Botschaft, die man nur oft genug von vorn und von hinten lesen musste, um sie zu begreifen.
Sonja starrte ins Schaufenster und sah sich langsam den Kopf schütteln. Nein, dachte sie. Wenn ich ehrlich bin, ist Luzie nicht mehr der einzige Grund, weshalb ich hier bin. Der Commissario hat Recht, sie ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Es gibt einen zweiten Grund: Ich will Antonio finden. Diese ganze sentimentale, unglückselige Geschichte von damals muss endlich einen anständigen Schlusspunkt erhalten: The End. Und zwar für mich. Damit ich Antonio einmal noch ins Gesicht sehen und ihm sagen kann, wie feige und gemein er sich damals verhalten hat. Und zweitens will ich ihn für Luzie finden. Damit meine Tochter endlich einen Vater hat. Und was sie dann damit anfängt, ist allein ihre Sache. Di Napoli – nicht zu fassen …
16
Mittlerweile war es Viertel vor acht. Das Café Gambrinus am anderen Ende der Via Chiaia hatte schon geöffnet. Sonja musste sich stärken und wappnen. Sie bestellte einen frisch gepressten Orangensaft und einen Cappuccino und aß ein weiteres Cornetto. Beim Zahlen fragte sie den Mann hinter der Kasse, ob er zufällig wisse, wo es in Neapel ein Internetcafé gebe.
Er machte ein ratloses Gesicht. »Boh … forse vicino alla stazione.« Er gab die Frage an den Kollegen an der Espressomaschine weiter, der wusste mehr. »Nicht weit von hier in der Galleria«, rief er gegen den Lärm beim Milchaufschäumen an, »kurz vor dem Ausgang zur Via Santa Brigida. Aber in der Altstadt gibt es sicherlich jede Menge Internetcafés, Signora, wissen Sie, wo die Universität ist? Via Mezzocannone, Spaccanapoli, die Gegend.«
Das Internetcafé in der Galleria Umberto I. hatte noch geschlossen, es hing auch kein Hinweis an der Ladentür, wann die Pforten geöffnet würden. Auf dem Weg in Richtung Universität sprangen Sonja jetzt überall die Namen der Geschäfte ins Auge: Sasso, Minerva, Chiaravalle, Elettrodomestici, Gallinoro, Farmacia Ferrante. Und an der Piazza Bovio in riesigen Lettern: Banco di Napoli.
Brett vorm Kopf gehabt, dachte sie und fragte sich bang, wie viele Di Napolis es wohl insgesamt in Neapel und Umgebung gab und wie viele davon Antonio hießen.
Das erste Internetcafé, das sie fand, lag tatsächlich schräg gegenüber der Universität. Ein junger Mann schloss den Laden soeben auf. Die Computer liefen noch nicht. Er war ihr behilflich bei der Suche nach der Internetseite des Telefonbuchs, den Pagine Bianche.
Das Ergebnis ließ sich sehen: Allein in Neapel gab es neunundzwanzig Antonio Di Napoli. Dazu kamen die Namensvettern in der Provinz: Arzano, Casoria, Marano, Massa di Somma, Mugnano, Portici und wie die Vororte alle hießen. Insgesamt ergab das knapp
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