Die Toten von Santa Lucia
warteten, dass irgendetwas passierte, zwei junge Männer, die sich in eine Ecke drückten, vielleicht um sich einen Schuss zu setzen.
Sonja fühlte sich in diesem Viertel unbehaglicher als in den quirligen Gassen im Centro Storico und in den belebten Geschäftsstraßen. Hier spürte sie wie schon in den Quartieri Spagnoli deutlicher, dass sie ein Eindringling war, eine Fremde. Jeder sah ihr das an, trotz ihrer dunklen Haare und der in Vietnam produzierten italienischen Schuhe, weil hier jeder jeden kannte und weil sie sich, bei allem Bemühen, locker zu wirken, zunehmend verspannte. Man sah es ihrem Blick an, ihrem Gang, jeder noch so kleinen Bewegung, und sie selbst spürte die Fremdheit bei jedem Schritt. Wie in einem Dorf war hier auf Anhieb klar, wer dazugehörte und wer nicht. Die Fremde wurde von tausend Augen beobachtet. Wenigstens hatte sie keinen Rucksack dabei.
Die gesuchte Gasse lag direkt hinter der Kirche Santa Maria ai Miracoli. Sonja blickte nicht mehr nach rechts oder links. Aus dem Augenwinkel suchte sie nach der Hausnummer, und als sie sie gefunden hatte, steuerte sie erhobenen Hauptes auf den Eingang zu, als sei sie schon hundertmal hier gewesen. Die Haustür war geschlossen, aber es gab eine Gegensprechanlage. Sonja klingelte. Eine verzerrte Frauenstimme meldete sich.
»Chi è?«
"C’è Antonio?«, schrie Sonja, als würde sie ihn gut kennen. Sie legte eine gewisse Ruppigkeit in die Stimme – ohne Einsatz von Ellbogenmentalität, Platz da, hier komme ich! – kam sie jetzt nicht weiter.
Es funktionierte. Ein Surren. Ein Klicken. Sie drückte die Tür auf und war froh, den tausend Blicken entkommen zu sein.
Im Hausflur war es halbdunkel und kühl. Es roch nach kalter Asche und Katzenpisse. Auf dem Treppenabsatz im ersten Stock stand ein großer Blumentopf voll ausgezehrter Erde, darin ein halb vertrockneter Blumenstängel, jede Menge Kippen, eine leere Spritze.
Nach der Klingelleiste zu urteilen wohnte dieser Antonio Di Napoli im zweiten oder dritten Stock. Langsam, aber mit festen Schritten, um die Aufregung unter Kontrolle zu bringen, stieg Sonja die Treppe hoch. Beklommen fragte sie sich, ob Antonio, ihr Antonio, tatsächlich hier wohnte, in diesem Haus, in diesem Viertel?
Erster Stock.
Wenn sie als Kind zum ersten Mal eine Freundin besucht hatte, war der erste Eindruck immer das Treppenhaus gewesen, der Geruch, das Licht, die Farbe des Fußbodens, der Wände, in Altbauten knarrten oft die Stufen, in Neubauten roch es meistens nach Bohnerwachs.
Zweiter Stock.
Was wusste sie als Fremde schon, was sich hinter den Fassaden der Häuser, hinter den Wohnungstüren abspielte?
Zweieinhalb.
Sie bog um die Ecke, blickte nach oben. Ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann stand in der Tür. Er trug Boxershorts und T-Shirt. Er war klein und unrasiert. Er hatte einen schwarzen Schnauzbart. Er sah ihr fragend entgegen.
Nein, es war nicht Antonio. Nicht ihr Antonio.
Einer weniger, dachte sie und lächelte erleichtert.
Als sie ihm gegenüberstand, entschuldigte sie sich. Sie habe vorhin angerufen, es sei offenbar eine Verwechslung, sie suche einen Namensvetter von ihm, einen anderen Antonio Di Napoli, der sie vor zwanzig Jahren einmal in Deutschland besucht habe. »Germania? Ci ho lavorato per dieci anni«, sagte der Mann, »Nurimberga, gute Stadt, belle donne.« Er grinste leicht anzüglich. »Peccato che …« Er kam nicht dazu zu sagen, was er bedauerte, denn neben ihm tauchte der Kopf eines etwa achtjährigen Mädchens auf. »Meine Tochter, si chiama Patrizia«, stellte er vor. Im Hintergrund ertönte die keifende Stimme der Frau, mit der Sonja offenbar telefoniert hatte. »Meine Frau«, sagte der Mann achselzuckend und machte Anstalten, die Tür zu schließen.
»Comunque grazie.« Sonja zwinkerte dem Mädchen zu. »Ciao bella.« Leichtfüßig sprang sie die Treppen hinunter. Der Geruch nach Katzenpisse fiel ihr gar nicht mehr auf.
17
»Da waren schon wieder Anrufe für Sie. Ziemlich viele«, meckerte Signora Russo, als Sonja am Nachmittag erschöpft und verschwitzt die Wohnungstür aufschloss.
Die Vermieterin trug heute ein tief dekolletiertes, gerade geschnittenes Strandkleid aus geblümtem Frottee, dazu hellgrüne Frotteeschlappen, in denen sie nicht weniger schlurfte als in der getigerten Pantoffelvariante. Sie schien geradezu auf Sonja gewartet zu haben und musterte sie mit einer Mischung aus Interesse und Misstrauen.
»Sie scheinen sehr beliebt zu sein.«
Dann zog sie einen
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