Die Toten von Santa Lucia
fünfzig Einträge. Zu jeder Adresse gab es im Netz sogar einen Umgebungsplan und eine Wegbeschreibung mitsamt Entfernungsberechnung. Sonja nummerierte die Kandidaten durch.
Fragte sich nur, wo sie ungestört telefonieren konnte. Die Pension kam dafür definitiv nicht in Betracht, ebenso wenig irgendein Café. Zum ersten Mal vermisste sie ihr Handy. Sie hatte einfach keine Lust gehabt, den seit Wochen kaputten Akku reparieren oder austauschen zu lassen. Es musste doch eine öffentliche Telefonzentrale geben. Sie fragte den jungen Mann, er kannte sich aus und erklärte ihr den Weg dorthin.
Am Ende des Vormittags hatte sie fünfundzwanzig der neunundzwanzig in der Stadt gemeldeten Telefonnummern und dreizehn der zweiundzwanzig Nummern in der Provinz erreicht. Bei einigen hatte niemand abgenommen, bei anderen hatte sie nur den Anrufbeantworter erwischt, aber was sollte sie schon draufsprechen, man konnte sie ja nicht zurückrufen. Überwiegend waren Frauen am Apparat gewesen, aber das hatte Sonja nicht anders erwartet.
Sie hatte vorher überlegt, wie sie ihre Geschichte am geschicktesten aufziehen könnte, um nicht gleich abgewimmelt zu werden. Sie musste davon ausgehen, dass Antonio mit Mitte vierzig verheiratet war und Kinder hatte. Eine unbekannte Frau, die nach einem Mann fragte, war immer potenziell verdächtig, es sei denn, sie rief im Auftrag eines Marktforschungsinstituts oder einer Firma an. In Sonjas Fall war beides unglaubwürdig, so gut war ihr Italienisch nun wieder nicht. Vor allem musste sie freundlich und reaktionsschnell sein – und sie musste harmlos klingen.
»Ich rufe aus Deutschland an«, hatte sie das erste Gespräch mit extrastarkem Akzent eröffnet. »Im Auftrag meines Mannes, der kein Italienisch spricht.« Damit war von vornherein eine gewisse Distanz hergestellt. »Mein Mann hat vor zwanzig Jahren in Italien einen Neapolitaner kennen gelernt, der Antonio Di Napoli heißt. Er möchte gern den Kontakt wieder herstellen, aber er hat seine Telefonnummer nicht.« Ob sie wohl ganz zufällig bei der richtigen Adresse gelandet sei? Antonio Di Napoli müsse jetzt etwa Mitte vierzig sein …
Die Frau hatte gelacht und gesagt, nein, da wäre sie falsch, ihr Mann sei über sechzig, aber viel Glück bei der Suche.
Die Strategie bewährte sich. Über die Hälfte der Namensvettern schied auf Anhieb aus. Bei den Kandidaten, die vom Alter her infrage kamen, hatte Sonja schnell nachgesetzt, er habe damals studiert. Bei diesem Stichwort dünnte sich die Reihe der verbliebenen Kandidaten erneut aus.
Ein paar der Männer hatten selbst den Hörer abgenommen. Sonja hatte ihren Text variieren müssen und auf Italienisch gesagt: »Ich rufe aus Deutschland an, aus Hamburg!«, als Nächstes: »Antonio, sei tu? Erinnerst du dich noch, wir haben uns vor zwanzig Jahren …« Alle hatten sie spätestens an diesem Punkt unterbrochen: Sie seien nie in Deutschland gewesen, und wenn in Deutschland, dann nie in Hamburg – das reichte, sie waren aus dem Spiel.
Sonja war enttäuscht. Der Elan vom frühen Morgen war verflogen. Sie hatte sich die Suche zwar nicht ganz so märchenhaft vorgestellt wie ein zufälliges Um-die-Ecke-Biegen von Luzie, aber nach so viel Mühe doch etwas erfolgreicher. Insgeheim hatte sie gehofft, dass irgendwer sagen würde: »Da hat doch vor kurzem schon mal eine Deutsche angerufen …« Aber niemand hatte ihr den Gefallen getan.
Immerhin kamen drei der Di-Napoli-Kandidaten in die nähere Auswahl. Zwei von ihnen waren Mitte vierzig, hatten studiert, aber die Frauen am Telefon wussten nichts über eine Jahrzehnte zurückliegende Bekanntschaft mit einem Deutschen. Sie solle später noch einmal anrufen, hatten sie gesagt. Die dritte Frau hatte zwar gesagt, ihr Mann sei in Deutschland gewesen, bei der Frage nach seinem Alter hatte sie aber empört den Hörer aufgeknallt. Sonja ließ sich im Internetcafé den Umgebungsplan dieser Adresse ausdrucken. Der Vico dei Miracoli war nicht weit. Das ließ sich zu Fuß erledigen. Und vielleicht machte die Gasse ihrem Namen ja alle Ehre und hielt ein Wunder für sie bereit.
Sonja folgte der Via Tribunali, bis sie auf die breite Via Duomo stieß, bog dann links ab, überquerte die noch breitere Via Foria, dahinter begann das Viertel Sanità. Die Gassen wurden wieder enger, schmutziger. Es waren keine Touristen mehr unterwegs, aber viele Kinder, Frauen in Kittelschürzen, alte Leute, Mofa fahrende Achtjährige, Jugendliche, die in Gruppen herumstanden und darauf
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