Die Toten von Santa Lucia
hinein. Ihr Fuß stieß gegen etwas Hartes, das unter den Stoffschichten verborgen war. Sie bückte sich. Begann zu wühlen. Ihre Finger ertasteten etwas Eckiges. Leder. Ein Griff. Sie zog daran.
Sie starrte auf den kleinen Koffer, den sie aus dem Wäschehaufen herausgezogen hatte: Es war ihr alter kleiner Lederkoffer, in dem sie als Kind die Puppenkleider aufbewahrt hatte. Und später Liebesbriefe und sonstige Andenken. Auch die Postkarte von Antonio. Und zuletzt den braunen Umschlag, der nach Luzies Geburt im Briefkasten gelegen hatte. Es war der kleine Koffer, den Luzie in ihrem Zimmer auf dem Fußboden ausgeschüttet hatte. Sie ließ die Schlösser aufschnappen. Natürlich war der Koffer leer. Aber es gab keinen Zweifel. Er war es. Ihr Koffer. Luzie war hier gewesen. Wie gelähmt stand Sonja mit dem Koffer in der Hand in dem engen Schlafzimmer, in dem die Hitze ebenso unerträglich war wie nebenan. Es musste nichts passiert sein, aber es war denkbar. Und das Denkbare verwandelte sich in einen Schrei. Einen lautlosen Schrei. Gentilini hörte ihn.
19
Es war Nacht, als sie die Wohnung verließen, eine laue Nacht unter Sternen. Von weither kam ihr ein Lied in den Sinn, das sie auf dem Campingplatz am Bolsenasee vor Jahren immer wieder in der Musikbox gewählt hatte, Una notte in Italia, rauchig-samtiger Italokitsch, der aber manchmal genauso tröstlich war wie eine Tüte knallrosa Brausepulver oder ein Grappa zu viel. Diese Art Trost war jetzt willkommen. Die Bar an der Ecke zur Via Santa Lucia hatte noch geöffnet.
Der Barbesitzer polierte konzentriert seine Gläser, sofern er nicht stumm auf Bestellungen reagierte. Mehrere Kinder, nicht älter als acht oder neun, drängten sich um zwei Spielautomaten – Autorennen, eine Jagd auf Außerirdische – und holten so viel Lärm wie möglich aus sich und den Maschinen heraus. An einem Tisch in der Ecke saßen ein paar ältere Männer, tranken Peroni-Bier und spielten Karten. Ein Motorrad fuhr vor, ein bärtiger Mann stieg ab, kam wie aus einem Western entsprungen mit breiten Schritten herein und fragte nach einem gewissen Gigino. Gigino sei nicht da, sagte der Barmann, und der Bärtige drehte bei, verließ die Bar, stieg auf das Motorrad, natürlich ohne Helm, und zog weiter wie bei Sergio Leone.
Gentilini und Sonja tranken einen Grappa. Der Commissario hatte zwei Stunden lang sein Bestes gegeben, um Sonja zur Seite zu stehen und sie zu beruhigen, und Sonja hatte sich zwei Stunden lang nach Seelenkräften dagegen gewehrt. Jetzt waren beide erschöpft.
Dass die Situation Anlass zur Beunruhigung gab, war keine Frage. Aber ebenso gut war denkbar, dass Luzie sich weder in akuter Gefahr befand noch überhaupt irgendetwas mit dem Mord zu tun hatte. Dass sie weder Drogen genommen noch etwas von Libero Zazzeras illegalen Geschäften mitbekommen hatte. Dass sie den Leuten, die Liberos Wohnung auseinander genommen hatten, nicht in die Quere gekommen war. Dass sie weder bedroht noch gefangen gehalten wurde und sich auch nicht auf der Flucht vor wem auch immer befand. Sonja sah sich umzingelt von Katastrophenszenarien. Gentilini dagegen fand, im Zweifelsfalle sollte man sich lieber an die bessere der denkbaren Möglichkeiten halten, statt sich unnötig verrückt zu machen. Er versuchte sie wortreich zu beschwichtigen. Aber es hatte keinen Sinn. Jetzt war Sonja immun gegen Ende-gut-alles-gutBeschwichtigungen, speziell aus dem Mund eines Mannes, der ihr seit ihrer Ankunft schon drei Tote präsentiert hatte.
Der Barmann schenkte Grappa nach. Sonja verspürte das dringende Bedürfnis, mit einer Frau zu reden, einer Freundin. Gentilini stellte ihr sein Handy zur Verfügung. In der Bar war es zu laut, deshalb ging sie auf die Straße.
Als Sonja anrief, zapfte Maris gerade ein Bier. Gegen neun, halb zehn wurde es in ihrer Barkassenkneipe namens Übersee in der Hamburger Speicherstadt langsam voll – ungünstige Bedingungen für ein Telefongespräch dieser Art. Sie telefonierten lange. Es war seltsam. Auf Deutsch hörte sich die Lage anders an. Obwohl die Wirklichkeit sich um keinen Mikromillimeter verändert hatte. Alles war wie zuvor und doch ganz anders. Noch während Sonja erzählte, wurde ihr selbst von Wort zu Wort klarer, was eigentlich passiert war – und was nicht passiert war. In der Muttersprache rückten die Geschehnisse näher an sie heran, wie von einem Magneten angezogen, und der Magnet war sie selbst. Und zugleich rückte alles ein Stück von ihr weg, als würde
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