Die Toten von Santa Lucia
geblieben, drehte sich um.
Kannte sie diesen Mann? Was wollte er von ihr?
Gentilini ging zu ihr zurück, kickte mit dem Fuß eine leere Plastikflasche weg. Eine Weile schien er unschlüssig, dann ließ er sich neben Sonja in die Hocke sinken. Die Gasse war kein idyllischer Aufenthaltsort. Nichts als Autos, hohe Häuser, ein Haufen Müllsäcke. Im Stehen sah man das glitzernde Meer, im Hocken den stumpfen Asphalt.
Als Gentilini leise zu summen begann, erkannte Sonja ihn wieder. Seine Stimme, rau und melancholisch. Sie tauchte in die Melodie ein und ließ sich vom Meer der Klänge wiegen. Eine Welle brachte sie nach einer Weile zu sich zurück. Strandgut. Ein Ort, eine Zeit: jetzt. Sie lauschte dem Gesang, aber tief in ihr flüsterte es weiter: Warum Luzies Foto? Was hat Luzie mit dem Toten zu tun? Mit seinem Leben? Seinem Tod? Ist Luzie in Gefahr? Wo steckt sie nur?
Als Sonja schließlich hinter Gentilini die Treppen zu dieser Wohnung hochstieg, musste sie sich sehr zusammennehmen. Sie war hier, um nach Spuren von Luzie zu suchen. Ein bisschen wie ein Spürhund. Rumschnüffeln, Witterung aufnehmen, den sechsten Sinn der Mütter zum Einsatz bringen. Aber wollte sie das überhaupt?, dachte sie mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube. Wollte sie im Schlafzimmer dieses Kerls einen BH von Luzie finden? Wollte sie eine Schranktür öffnen, und darin hing dann eins von Luzies Sommerkleidern, das hellgrüne Spaghettiträgerkleid mit den dunkelroten Rosen? Wieder glitt dieser Schatten von Fremdheit über sie hinweg.
Das Treppenhaus wurde immer finsterer, im dritten und vierten Stock war zu allem Übel auch noch die Glühbirne kaputt. Sie tasteten sich an der Wand entlang. Die Treppe endete vor einer Eisentür, direkt unter dem Dach.
Erste Station war ein schmaler Vorraum, nicht größer als die Sicherheitsschleuse in einer Bank, natürlich ohne Überwachungskamera. Auf dem Fußboden kreuz und quer verteilt Schuhe unter einem Haufen Scherben. Der Rahmen des zerborstenen Spiegels steckte mit einer Ecke in einem Adidas-Schuh. Männergröße, registrierte Sonja. Das Garderobenbrett hing noch an der Wand, an einem der Haken boten die Überreste einer zerschlitzten Lederjacke einen fast gespenstischen Anblick. Am Haken daneben ein Strohhut, überraschend unversehrt.
Männerlederjacke, Männerstrohhut, Männerschuhe. Keine Frauenschuhe. Kein Hinweis auf die Anwesenheit einer Frau, dachte Sonja und folgte Gentilini in den Wohnraum, ein etwa dreißig Quadratmeter großes, nicht sehr hohes Zimmer, in dem sich die Hitze wie unter einer Glasglocke staute. Die Wohnung befand sich auf dem Dach des Hauses, und die Sonne hatte den ganzen Tag erbarmungslos auf die breite Fensterfront geknallt. Niemand hatte die Rolläden heruntergelassen, niemand die Fenster geöffnet. Die Verwüstung im Zimmer war schwer zu übersehen.
Gentilini bahnte sich einen Weg durch das Chaos aus Büchern, CDs, Zeitungen, zerschlagenem Geschirr, aufgeschlitzten Kissen, umgeworfenen Stühlen und sonstigem Hausrat. Mitten im Raum blieb er stehen und sah sich um. »Der Besitzer wird nicht gerade begeistert sein.«
Aus dem Fernsehen kannte Sonja Szenen, in denen Wohnungen auf den Kopf gestellt worden waren. Wie gesagt, Szenen. Das hier war nicht inszeniert. Gentilini hatte sie darauf vorbereitet, dass die Wohnung durchsucht worden war, vermutlich von denselben Leuten, die Libero Zazzera erschossen hatten. Dennoch. Durchsuchen war ein vergleichsweise friedliches Wort. Sie schloss kurz die Augen und hoffte inständig, dass Luzie diese Wohnung nie in ihrem Leben betreten hatte.
»Wonach haben sie gesucht?«, fragte Sonja.
»Keine Ahnung. Drogen. Heroin, Kokain. Vielleicht ist Zazzera in letzter Zeit größer eingestiegen ins Geschäft. Oder er hat versucht, auf eigene Faust zu arbeiten.«
»Und dafür wird er erschossen?«
»Es sind schon Leute für viel weniger ins offene Messer gelaufen.«
Gentilini bückte sich, wühlte in einem Haufen Bücher vor einem leeren Regal. »Und es haben schon Leute für weniger gemordet. Gut denkbar, dass Zazzera jemandem in die Quere gekommen ist. Oder seine Kunden nicht gut genug kannte. Wenn ein Junkie dringend einen Schuss braucht, aber kein Geld hat, fallen schnell die letzten Barrieren.«
»Du meinst, es waren Junkies?«
»Ich meine gar nichts. Ich rede nur so vor mich hin.«
»Aber wie sind die hier reingekommen? Die Haustür sieht ziemlich stabil aus. Und unversehrt.«
»Bis auf das Foto, seine Papiere und ein
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