Die Toten von Santa Lucia
Flugzeug saßen viele reizende ältere Leute, eine Reise nach Neapel oder Ischia kostet nicht die Welt, das kannst du dir leisten. Wenn ich wieder da bin, gehen wir zusammen hin und suchen etwas aus, was dich interessiert, ja?«
»Vielleicht zeigt Luzie ihrer Großmutter ja eines Tages, wo sie in Neapel überall gewesen ist … Sie hat mir übrigens eine Postkarte geschickt, habe ich das schon erzählt? Gestern früh lag sie im Briefkasten, ich bekomme ja so selten Post, wer soll mir schon schreiben? Und stell dir vor, die Karte war vier Wochen unterwegs, ich habe extra auf dem Poststempel nachgesehen.«
Sonja hielt den Atem an. »Was hat sie denn geschrieben?« Sie hörte förmlich, dass ihre Mutter bei dieser Frage Aufwind bekam.
»Dass es ihr gut geht und dass sie … Wieso willst du das überhaupt wissen? Nein, Kind, also wirklich, das Briefgeheimnis habe ich noch nie verletzt, das sind Sachen zwischen meiner Enkelin und mir. Wenn sie es dir erzählen will, wird sie es sicherlich tun. Und wenn nicht …«
Eins war klar: Hätte Luzie sich nicht nur per Postkarte, sondern auch telefonisch bei ihr gemeldet, hätte Oma Hilde das garantiert nicht für sich behalten können.
Zurück in die Bar. Der nächste Grappa. Gentilini starrte nicht mehr in den Fernseher, sondern ins leere Glas. Ein wohlig dumpfer Nebel eroberte langsam, aber sicher Sonjas Sinnes- und Gedankenwelt. Der Alkohol machte die Sache nicht besser und schaffte kein Problem aus der Welt, aber er legte sein wärmendes Mäntelchen um alle vor Kälte und Angst klappernden, offenen Fragen. Die innere Unruhe ließ jedenfalls allmählich nach.
Und ein Mann? Ein Freund des Hauses sozusagen?
Eine Art Vaterersatz? Sonja war seit Hendrik mit keinem Mann mehr zusammen gewesen, jedenfalls nicht für länger. Und vorher, ein Jahr Manuel, ein halbes Jahr Hanspeter, anderthalb Vincent, aber der hatte in Freiburg gelebt und sie hatten sich nur alle zwei Monate für ein verlängertes Wochenende gesehen – und nicht immer war Luzie dabei gewesen. Vincent hatte eine Frau aus Karlsruhe geheiratet, worüber Sonja nicht nur traurig gewesen war. In ihrem Leben hatte es in den letzten Jahren nicht wirklich Platz für einen Dritten gegeben, der sich perspektivisch auf Dauer bei ihr und Luzie einrichten wollte. Sonjas Leben bestand aus Beruf und Tochter und Tochter und Beruf, und das schloss auch Schule und Recherchen und Ärger bei der Arbeit und Ausflüge mit Oma Hilde mit ein, Krankheiten und Arztbesuche und Sportveranstaltungen und Taxidienste und Streit und Versöhnungen und wichtige Gespräche und Blödeleien und Abende vor dem Fernseher und Zeit zu zweit und Zeit für Freunde. Freunde, die keine Ansprüche stellten und von denen sie sich verabschiedete, sobald sie ihr zu dicht auf die Pelle rückten. Wahrscheinlich war sie nie wirklich verliebt gewesen. Nicht bis über beide Ohren. Nicht wie damals.
Nein, einen Vaterersatz hatte es nie gegeben.
»Könnte es nicht sein, dass Luzie längst bei ihrem Vater ist?«, fragte Gentilini irgendwann zwischen dem sechsten und dem neunten Grappa. »Falls sie herausgefunden hat, wer er ist und wo er wohnt?«
Klar. Auch das war denkbar. »Ich weiß übrigens inzwischen seinen vollen Namen«, sagte Sonja und erzählte, wie sie darauf gekommen war.
»Wieso sagst du das erst jetzt?«
»Wollte ich ja … Verrückt, dass ich nicht eher darauf gekommen bin. Er hatte es sogar auf die Postkarte geschrieben: Antonio Di Napoli. Antonio aus Neapel. Ganz einfach.«
Gentilini winkte nur kurz mit dem Kopf. Der Barmann schenkte ein. »Dann sind wir wenigstens an dem Punkt einen Schritt weiter«, sagte er mit schwerer Zunge. »Morgen früh such ich dir alle infrage kommenden Antonio Di Napolis raus. Vielleicht ist deine Luzie bei ihrem Vater, und alles wird gut.«
»Nicht nötig«, murmelte Sonja und schwankte leicht. »Ich war heute im Internetcafé und hab den halben Tag rumtelefoniert. Aber ein paar Leute habe ich nicht erreicht. Vielleicht lebt Antonio gar nicht mehr in Neapel.«
»Das finden wir schnell raus. Keine Angst, wir finden ihn, und wenn er im hinterletzten Bergdorf in der Basilicata lebt«, brabbelte Gentilini, und es klang wie ein Zitat aus einem Film. Vielleicht war es seine Art, sich Mut zu machen, indem er sich schon vorher auf die Schulter klopfte. Oder aber ihr Mut zu machen. »Wir finden Luzie.«
Er lehnte an der Theke und starrte ausdruckslos vor sich hin, vielleicht auf die Seifenlauge im Gläserspülbecken,
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