Die Toten von Santa Lucia
Sonja den Anruf als spontanen Urlaubsgruß.
»Ich wollte nur schnell hören, wie es dir geht.«
»Das ist ja mal eine Seltenheit. So spät am Abend? Ich wollte gerade ins Bett.« Ihre Mutter hatte wie gewohnt zur Begrüßung eine spitze Bemerkung parat. Wer weiß, wie lange ihr der Vorwurf schon auf der Zunge liegt, dachte Sonja. Wann habe ich sie zuletzt angerufen? Schätzungsweise am Muttertag …
»Dass du auch mal an mich denkst.«
Was sollte man darauf schon entgegnen?
»Du bist also auch in Neapel, wie Luzie? Hast du überhaupt Urlaub? Mir sagt ja keiner was.«
Es war die Sorte Sätze, bei denen Sonja regelmäßig Lust bekam, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. Sie legte eine Schweigeminute ein. Das half auch bei größerer Entfernung.
Ein altes Spiel. Nach dem Tod des Vaters waren sie und ihre Mutter eine Zeit lang nah zusammengerückt, doch dann hatte Sonja mehr und mehr ihr eigenes Leben gelebt, war mit Freunden verreist, ihr Alltag hatte sich bald immer weniger um die Mutter gedreht, die allein zurückblieb und es nicht schaffte, ihrerseits noch einmal neu zu starten. Erst Luzies Geburt hatte der frisch gebackenen Oma wieder Tür und Tor in Sonjas Leben geöffnet. Mit fliegenden Fahnen und wehenden Plänen hatte Sonjas Mutter die Chance gewittert: aus dem verflossenen Zweierteam ein Dreierteam zu bilden. Als Sonja ein Jahr nach Luzies Geburt zu studieren begann, hatte die Oma sofort hilfsbereit angeboten, ganztags auf die Enkelin aufzupassen. Als Luzie mit dreieinhalb in den UniKindergarten kam, war Oma Hilde zutiefst gekränkt gewesen. Trotzdem war sie immer eingesprungen, auch abends oder über Nacht oder wenn Sonja Prüfungstermine hatte. Natürlich wurde von Sonja Dankbarkeit erwartet, und zwar doppelt und dreifach. In Form von Ausflügen, Einladungen, Unternehmungen und Anrufen mehrfach in der Woche, in Form von Vereinnahmung, die unter dem Decknamen Gemeinsamkeiten lief. Die Mutter, die Tochter, die Enkelin – »das heilige Triumvirat der Zorns«, pflegte Oma Hilde fröhlich zu sagen, wenn sie wieder einmal an einem Sonntag einen Ausflug unternahmen, zu dritt an die Ostsee oder in die Lüneburger Heide. »Ist das nicht herrlich, Kinder?!«, rief sie jedes Mal begeistert, »das sollten wir viel häufiger machen …« Eines Tages war sie mit dem Vorschlag herausgerückt, sie könnten sich gemeinsam eine Wohnung suchen, das wäre viel praktischer und auch vom Preis her günstiger, und hatte sogleich die entsprechend präparierte Zeitung mit den Wohnungsannoncen auf dem Küchentisch ausgebreitet: Die infrage kommenden Objekte waren bereits rot angestrichen. Es war schwer gewesen, Oma Hildes Tatendrang mit heiler Haut zu entkommen.
Die Mutter legte einen Scheit Freundlichkeit nach. »Na ja, Hauptsache, ihr amüsiert euch.« Um dann zu sticheln: »Aber ist das nicht gefährlich in Neapel? Mit all den Toten, was man ständig in der Zeitung liest? Das ist doch schrecklich, da könnt ihr doch nicht … und pass bloß auf, dass sie dir nicht deine teure Digitalkamera klauen.«
Sonja musste sich zwingen, ihrer Stimme eine Prise Unbesorgtheit beizumischen. »Alles halb so schlimm, Mama. Den Touristen krümmt hier niemand ein Haar. Und die Stadt ist wirklich traumhaft …«
Schon als sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass es ein Fehler war. Denn nach dem Du-kümmerst-dich-nicht-um-mich wurde nun Vorwurf Nummer zwei ausgeworfen wie ein Fangnetz: Ihr-nehmt-mich-ja-nie-mit.
»Da bin ich ja leider noch nie hingekommen!« Ein Seufzen. »Das wird wohl in diesem Leben auch nichts mehr werden.«
Als Luzie klein war, zur Kindergartenzeit, vielleicht als Ersatz, weil Sonja ein schlechtes Gewissen hatte, waren sie mehrmals zu dritt in den Urlaub gefahren, an die Nordsee, auch nach Italien, drei Frauengenerationen: »Hier kommt Zorn hoch drei.« Doch die beschworene Einheit war in Wirklichkeit gar keine, zu verschieden waren die Ansichten von Mutter und Tochter, was Luzies Erziehung betraf, was erlaubt war und was nicht. Nachdem sich Hilde und Sonja mehrfach vehement in die Haare gekriegt hatten, wurden die Triumviratsreisen für beendet erklärt. Sonja hatte seither immer wieder vergeblich versucht, ihre Mutter für eine organisierte Reise gleich welcher Art zu begeistern. Hilde Zorn war erst Ende sechzig und bekam eine Rente, die keine Riesensprünge, aber mindestens eine kleine Reise pro Jahr erlaubte.
Deshalb sagte Sonja auch jetzt wieder: »Mama, geh ins nächste Reisebüro. Bei mir im
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