Die Toten von Santa Lucia
bisschen Kleingeld hatte der Tote nichts bei sich. Kein Tütchen Heroin, keinen Wohnungsschlüssel. Wer immer draußen auf Zazzera gewartet hat, war hinterher in seiner Wohnung, und zwar eindeutig mit Zazzeras Schlüssel. Mit welchem Ziel auch immer.«
»Dann muss der Täter gewusst haben, dass Zazzera hier wohnte.«
»Richtig.«
»Jemand hat ihm aufgelauert?«
»Sieht ganz so aus.«
»Das heißt, dass der Mord geplant war.«
»Nicht unbedingt. Aber wahrscheinlich ist es.«
»Hat denn niemand etwas beobachtet?«, fragte Sonja, und ihr Blick glitt hektisch über das Durcheinander.
Gentilini sah sie mitfühlend an. »Neapel ist eine Stadt, in der die Leute alles sehen, aber nie das, wofür die Polizei sich interessiert. Pure Überlebenskunst, über Jahrhunderte verfeinert.« Er zuckte die Achseln. »Ich kann’s verstehen. Ich bin ja selbst hier aufgewachsen, ich hab’s zum Teil genauso im Blut und weiß, wie es funktioniert und dass es funktioniert. Jeder ist sich selbst am nächsten. Die Neapolitaner trauen weder den Politikern noch der Justiz – und der Polizei schon gar nicht.«
Sonja dachte an den Tag ihrer Ankunft, an ihre Begegnung mit den Leuten aus den Quartieri Spagnoli, an die Gespräche, die sie mitgehört hatte. Wie lange war das her? Erst zwei Tage?
»Und du, wem traust du?«
»Ich traue nur mir selbst«, sagte er schroff, als sei sie ihm zu nahe getreten, dabei lagen mehrere Meter zwischen ihnen.
Er bückte sich erneut und zog unter dem umgekippten Beistelltisch ein paar herausgerissene Buchseiten hervor.
»Ma-ri-ne-a-kade-mie«, las er stockend, und dann flüssig: »accademia navale. Ma-ri-nie-ren – das ist einfach: marinare.« Er hielt ihr die Blätter hin. »Das ist deutsch, oder? Sieht aus wie Seiten aus einem Wörterbuch.«
»Gib mal her.« Sie nahm die Blätter mit spitzen Fingern entgegen. Er hatte Recht. Es waren Seiten aus einem zweisprachigen Lexikon. Deutsch-Italienisch. Sah ziemlich neu aus. Es musste nicht Luzie gehören. Vielleicht hatte Zazzera angefangen, Deutsch zu lernen.
»Hier ist auch der Einband«, sagte Gentilini und hielt einen Buchumschlag hoch. »Mitsamt Preisschild. Bei Feltrinelli in der Via Roma gekauft und in Euro bezahlt.«
Wie auf der Suche nach Gegenbeweisen begann Sonja hektisch in dem Durcheinander zu wühlen. Wenn sie weiter nichts fand, keinen einzigen Hinweis auf die Anwesenheit einer zwanzigjährigen Deutschen, dann – ja, was wäre dann? Wäre Luzie dann aus dem Schneider? Es blieb ja immer noch das Foto. Und was war im umgekehrten Fall? Wenn weitere Spuren auftauchten? Sie wagte nicht, darüber nachzudenken. Wo war eigentlich das Bad?
Sie kickte mit dem Fuß einen leeren Topf zur Seite und drückte sich durch eine Schiebetür, die eine Handbreit offen stand. Waschbecken, Toilette, Dusche, alles auf engstem Raum. Zahnbürste, Zahnpasta, Seife, Shampoo, Kamm, Deo. Männerdeo. Zahnbürsten und Shampoo waren neutral. An den Haken hingen zwei Handtücher. Sonja konnte keinerlei weibliche Drogerieartikel entdecken. Nirgendwo Haargummi, Nagellack, Schminkutensilien, Damenparfüm. Nein, das sah nicht so aus, als wäre Luzie hier gewesen.
Etwas mutiger geworden betrat sie das zweite Zimmer, das viel kleiner war als der Wohnraum mit der Küchenzeile. Hier stand ein großes Bett. Viel mehr passte in den Raum auch nicht hinein. Ein Bambusregal. Ein Hocker. Das Bett sah nicht nur durchwühlt, sondern auch benutzt aus. Auf dem Fußbodenstreifen zwischen Bett und Wand lagen mehrere Kleiderhaufen, wie von einem Maulwurf aufgeworfen. Unmöglich zu sagen, ob Libero Zazzera ein Vertreter jenes Männertypus war, der seine Sachen im Zweifelsfall einfach auf den Boden fallen ließ. Sonja hob mit spitzen Fingern ein Hemd hoch, ein T-Shirt. Männerkleidung. Sie hob eine Hose hoch. Männerhose. Die Socken fasste sie gar nicht erst an. Etwas Geblümtes spitzte unter dem Bett hervor. Ein Seiden-T-Shirt. Ein Frauen-T-Shirt. Nicht von Luzie, nein. Sonja kannte Luzies T-Shirts, schließlich stopfte sie immer noch regelmäßig Luzies Wäsche in die Waschmaschine und hängte sie meistens auch auf. Es sei denn … das T-Shirt wäre neu. Ein Neuzugang aus einem Laden in Neapel. Nervös fummelte Sonja nach dem Wäscheetikett. Benetton. Das sagte gar nichts. Gab es überall. Über den nächsten Kleiderhaufen, auf dem zuoberst ein Männerpolohemd lag, wollte sie rücksichtsvoll hinwegsteigen. Dann dachte sie, nein, das ist jetzt auch schon egal, und setzte ihren Fuß mitten
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