Die Toten von Santa Lucia
war. Mausetot. Unter der Erde. Begraben. Von Würmern zerfressen. Zu Staub zerfallen. Was hinreichend erklärte, weshalb er nie wieder etwas hatte von sich hören lassen – kein Sterbenswörtchen. Was ebenfalls erklärte, weshalb sie ihn bisher in Neapel nicht ausfindig machen konnte. Es gab ihn nicht mehr. Ironisch betrachtet, hatte sie zwanzig Jahre lang völlig umsonst daran gearbeitet, Antonio aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Vergebliche Mühe, den Satz Er ist für mich gestorben in ihrem Denken und Fühlen zu verankern. Er war schon damals gestorben. Und zwar wirklich. Aber sie hätte ihm, dem Vater ihrer Tochter, niemals wirklich den Tod an den Hals gewünscht. Alles Mögliche, gerne alle Missgeschicke der Welt, aber nicht den Tod. Schon gar keinen gewaltsamen.
Damals hatte sie wie besoffen von Verachtung, der eisigen Verachtung der Verlassenen, eine erst seit so kurzem offen stehende Tür in ihrem Leben zugeknallt und den Schlüssel mit einem zornerfüllten Urschrei auf Nimmerwiedersehen ins Meer des Vergessens geschleudert. Und jetzt hatte das Meer des Lebens sie wieder vor diese Tür gespült und sie erneut einen Spaltweit geöffnet – und Sonja wusste: Wenn sie die Tür weiter aufstieß und über die Schwelle trat, würden Vergangenheit und Gegenwart, der alte und der neue Schmerz in ihr wieder eins, und sie hatte Angst vor der Kettenreaktion, die diese Begegnung auslösen könnte. Die Wirklichkeit hatte sich um ein paar Grade weitergedreht und zeigte nun ein anderes Gesicht, und damit änderten sich im Handumdrehen auch die Perspektiven, damit änderte sich alles, was Sonja bis zu diesem Moment zwanzig Jahre lang gedacht und empfunden hatte. Nichts stimmte mehr. Die ganze Verachtung, die Bitterkeit, die Wut, in deren Fahrwasser sie eine Art Leichentuch über die Affäre mit Antonio geworfen hatte, waren durch seinen gewaltsamen Tod gegenstandslos geworden. Er hatte sich gar nicht sang- und klanglos aus dem Staub gemacht. Vielleicht hätte er sie damals überhaupt nicht verlassen. Vielleicht wäre er wiedergekommen, in den Wochen vor Luzies Geburt oder sogar zur Entbindung oder danach, in den ersten Lebenswochen und -monaten. Vielleicht, nein sicherlich, hätte er sein Töchterchen sehen und im Arm halten wollen, vielleicht wäre er sogar nach Hamburg gezogen oder Sonja nach Neapel oder aber alle beide an einen ganz anderen, dritten Ort, und dort hätten sie dann glücklich und zufrieden gelebt bis an ihr Lebensende. Vielleicht hätten sie sogar geheiratet. Vielleicht wären sie jetzt ein genauso unerträgliches Paar wie Ulrike und Volker oder Gaby und Heinrich. Vielleicht wären sie längst schon wieder geschieden wie Ilka oder Gentilini, Luzie wiederum hätte ihren Vater regelmäßig in Neapel besucht, zumindest in den Ferien. Was war nicht alles denkbar, im Nachhinein. Die Hoffnung machte es möglich, die nachträgliche, irreale Hoffnung des längst Vergangenen, die nicht nach Beweisen verlangte und keine Enttäuschung kannte …
Der steinerne Brunnen mit den Löwenköpfen in der Mitte der Allee sah aus, als sei alles Wasser unter der brütenden Sonne verdampft. Die leeren Becken dienten als Halde für Zigarettenschachteln, Kaugummipapier. Ein trostloser Anblick. Ein Kind war beim Herumtollen hingefallen und brüllte jetzt wie am Spieß. Sonja bog von der Hauptallee in einen schmaleren Seitenweg ein. Während Luzie in Sonjas Bauch wuchs und gedieh, war Antonio unter die Erde gebracht worden, im März vor zwanzig Jahren: eine Gleichzeitigkeit von Leben und Tod, die so viel Schmerz enthielt, dass sie es kaum aushalten konnte. Aber Sonja ging weiter, ging auf die unsichtbare Wand zu, und im nächsten Moment hatte sich die Wand in nichts aufgelöst. Jede Faser ihres Körpers sagte ihr, wie krank sie damals gewesen war: vor Verlangen, vor Sehnsucht. Das Warten, das Hoffen, Tag für Tag. Wie oft war sie mit klopfendem Herzen zum Telefon gerannt, wenn es klingelte, wie oft hatte sie mit zitternden Fingern den Briefkasten geöffnet. Von wegen Coolness und Ich mach das ganz allein und brauch dich nicht. Antonio war kein Kurzzeitlover gewesen, kein Zufallsgeliebter, den man im Packeis jugendlicher Irrtümer einfrieren konnte. Sie hatte damals ihr Herz an ihn gehängt. Seine Hinterlassenschaft war nicht allein Luzie, er hatte ihr einen Keim der Liebe hinterlassen, den sie jahrelang versucht hatte, zu ersticken.
Se n’è andato … Keine Frage, was die Frau in Neapel, mit der Maris damals ohne Sonjas Wissen
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