Die Toten von Santa Lucia
wissen wir nicht.«
Sie starrte ihn an.
»Das wisst ihr nicht?« Ihre Stimme zitterte, wurde dann schrill. »Wieso zum Teufel wisst ihr das nicht?«
Gentilini sah zu Boden und scharrte in Gedanken mit den Füßen. Das Zimmer war mit einem meerblauen Teppichboden ausgelegt. Zimmer in so wundervoll gelegenen Hotels sollten keinen Teppichboden haben, dachte er fluchthalber, sondern Parkett oder Kacheln. Pensionen in so wundervoll gelegenen Städten sollten Reisende nicht übers Ohr hauen. Wieso konnte er ihr nur keine andere Antwort geben? Was für einen beschissenen Beruf übte er aus, dass er, ebenso wie seine Kollegen, selbst nach zwanzig Jahren noch nicht mit Sicherheit wusste, wer den damals fünfundzwanzigjährigen Journalisten auf dem Gewissen hatte?
Was tat er eigentlich den lieben langen Tag? Von einem Mord zum nächsten eilen? Nur darauf warten, dass wieder etwas passierte? Er und seine Kollegen hatten nie ausreichend Zeit, sich die einzelnen Fälle wirklich gründlich vorzunehmen und sorgsam durchzugehen, allen Spuren zu folgen, alle Zeugen zu befragen und nach weiteren Zeugen zu fahnden. Da blieb zu viel auf der Strecke. Selbst der Doppelmord vom Montag in den Quartieri Spagnoli war fast schon vergessen. Und mit dem Mord an Zazzera würde es nicht anders laufen. Di Napoli? Schnee von vorvorgestern. Personalmangel auf der einen Seite, ein Überschuss an Gewalt auf der anderen. Das Verhältnis stimmte nicht mehr – die Verhältnisse stimmten sowieso schon lange nicht mehr, aber das Missverhältnis wurde immer schlimmer. Wie ihn das alles anwiderte, diese allgegenwärtige Gier nach Geld und Macht. Inzwischen verstand Gentilini besser, was Rosaria damals gemeint hatte. Seine Frau hatte seinen Beruf und alles, was damit verbunden war, einfach nicht länger aushalten können. Er hielt es ja manchmal selbst nicht aus.
Sicher, vor zehn, zwölf Jahren, als die Kinder noch klein waren, hatte Italien einen Aufschwung an Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie erlebt. Auch in Neapel hatte ein neuer Wind geweht: Teile der Altstadt, die Via Roma und die Via Chiaia wurden für den Verkehr gesperrt, korrupte Kommunalangestellte gefeuert, Parks geöffnet, das Stahlwerk Italsider in Bagnoli als größter Verpester von Luft und Wasser geschlossen. Der linke Bürgermeister setzte auf Umweltschutz und Tourismus, also wurden das Museo Nazionale modernisiert, das Metronetz ausgebaut, die Polizeipräsenz in der Altstadt verdoppelt, und auf den autofreien Plätzen öffneten Cafés – mit dem Erfolg, dass Neapel in Italien tatsächlich eine Zeit lang zum Geheimtipp für Sightseeing und Kulturtourismus schlechthin geworden war. Die Arbeit der Polizei hatte endlich einmal Wirkung gezeigt: Bestechliche Politiker, Unternehmer, Camorramitglieder wanderten ins Gefängnis – Leute, die im Tauschhandel für Wählerstimmen das Gesetz beugten; Leute, die für ansehnliche Summen Bauaufträge an Firmen erteilt hatten, die sich überdies oft genug wiederum als Scheinfirmen der Camorra entpuppten; Leute, die unliebsame Beweise für Lug und Trug verschwinden ließen, um die eigene Karriere zu beschleunigen; Leute, die lieber über Leichen gingen, als einen Millimeter an Macht einzubüßen; allesamt Leute, die schamlos das Haben über das Sein stellten. Es war eine gute, kraftvolle Zeit gewesen. Man hatte sich gegenseitig auf die Schulter geklopft. Vielleicht ein bisschen zu oft. Die Blütezeit war kurz gewesen. Zu kurz.
An der strukturellen Arbeitslosigkeit und dem Druck der Globalisierung hatte auch diese Politik nichts ändern können. Die Schließung der Dreckschleuder Italsider hatte den Verlust von Arbeitsplätzen bedeutet. Rund siebzig Prozent der Jugendlichen in Neapel hatten keinerlei Perspektiven, was eine Ausbildung oder reguläre Arbeit betraf. Und Arbeitslosigkeit hieß langfristig immer Zunahme an Kriminalität – da brauchte man keine umfangreichen Statistiken, da reichte ein einziger Blick in die Slums von Südamerika. Die Camorra hatte sich nach den Rückschlägen in den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren regeneriert und zeigte verstärkt und ungeniert Präsenz. Zehn Jahre Berlusconi hatten das Übrige getan.
Nein, das Sein hatte schon lange nicht mehr die Oberhand über das Haben, dachte Gentilini, während er auf dem meerblauen Teppich stand, der ihn nicht forttrug, nirgendwohin in Sicherheit brachte, und ihm auch nicht half, eine fadenscheinige Antwort zu finden. Die Hoffnung, alles könnte gut
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