Die Toten von Santa Lucia
werden, alles könnte sich ändern, war eine grandiose Illusion. Man musste mit kleinen Schritten zufrieden sein. Mit sehr kleinen Schritten. Und selbst das war nicht viel mehr als Selbstbetrug. Von wegen kleine Schritte – er trat doch auf der Stelle, seit langem schon, alle traten sie auf der Stelle, auch seine Kollegen, alle versuchten sie, die Löcher im Wassereimer mit Stroh und Papier zu stopfen. Aktivismus gegen Ohnmacht, könnte das Programm im Klartext lauten. Und der Erfolg: zwei Schritte vor und drei zurück. Noch schlimmer also. Und unterwegs gingen Ehen kaputt und die Liebe verloren, aber man merkte es nicht einmal oder wollte es nicht merken, weil sonst das ganze Lebenskonzept, das Lebenskorsett, das einem die Luft abschnürte, einen Riss bekam, nein, was hieß schon einen Riss – mit lautem Getöse in die Luft flog und man selbst mit dazu.
Er ballte innerlich die Faust. Basta! Da war erstens der Mord an Libero Zazzera. Da war zweitens der Mord an Antonio Di Napoli. Da war drittens die verschwundene Luzia Zorn. Und viertens … diese Frau, von der er heute Nacht geträumt hatte und die ihn jetzt immer noch verzweifelt ansah und vergeblich auf eine Antwort wartete. Und wenn heute fünf neue Camorraopfer auf den Straßen Neapels lägen, würde er diesen einen Fall, der aus mehreren einzelnen, aber irgendwie miteinander zusammenhängenden Fällen bestand, nicht drangeben. Er konnte Sonja nicht Di Napolis Mörder präsentieren – noch nicht! Aber er würde am Ball bleiben. Vor allem aber würde er Luzie finden, egal, was sonst geschah.
Er zog einen Pack zusammengefalteter Din-A4-Blätter aus der Innentasche seines Jacketts und legte alles auf die gelb-blau gestreifte Tagesdecke auf dem Bett. »Ich habe einige Artikel ausgedruckt, die nach seinem Tod erschienen sind. Und ein paar Informationen. Das war’s aber auch schon.«
Dann ging er auf Sonja zu, blieb vor ihr stehen, sah sie stumm an und strich mit dem Finger über ihre Wange. In dem Moment wusste er, dass er sie gern in die Arme genommen hätte.
»Mehr kann ich jetzt leider nicht für dich tun. Ich muss los. Wir haben eine Besprechung, danach kümmere ich mich weiter um den Fall Zazzera. Du kannst mich jederzeit auf dem Handy erreichen, va bene?«
Sie nickte.
22
Sonja lag auf dem Bett und starrte an die mit Fertigstuck verzierte Decke. Das sah sie auf einen Blick, dass die Stuckrosetten nicht echt waren – belanglose Details aus jahrelangen Recherchen zum Thema Wohnen und Leben, an denen sie sich jetzt festhielt wie an einem rettenden Strohhalm. Am Königsblau der Sessel. Am glänzenden Messing der Stehlampe. Den Strohblumen. Dem gesteppten Bettüberwurf. An den Versatzstücken eines Viersternehotels, zusammengewürfelt aus internationalen Wohnillustrierten für die gehobene Einkommensklasse.
Es half alles nichts.
Antonio war erschossen worden.
Sie wartete darauf, dass Trauer sich wie ein schwarzer Mantel um sie legte. Sie wartete darauf, dass Tränen kämen. Aber es kamen keine.
Sonja stand auf, ging ins Bad, starrte in den Spiegel, sah kleine, zu Tode erschreckte Augen. Sie ging zurück ins Zimmer, griff nach den Computerausdrucken auf dem Bett, stopfte sie in ihren Rucksack und verließ das Hotel. Sie musste etwas unternehmen. Sie brauchte Bewegung. Im Gehen war das Innehalten oft leichter.
Eine Zeit lang folgte sie dem Lungomare. Sie hatte heute keinen Blick für blaue Untiefen und wässrige Ferne. Was sie vor ihrem inneren Auge suchte war nah, viel zu nah, um es erkennen zu können. Links das Meer, rechts der Verkehr, über ihr diese Hitzeglocke – sie fühlte sich in die Zange genommen. Sie überquerte die mehrspurige Straße, passierte ein schmiedeeisernes Jugendstiltor und betrat einen Park, der sich wie ein der Länge nach ausgerollter Schal zwischen den hohen Palazzi des Viertels Chiaia, dem Lungomare und dem Meer erstreckte. Am Eingang vermietete ein junger Mann Miniautoscooter. Er saß im Schatten und hörte Musik vom MP3-Player, offenbar ging noch kein Geschäft. Eine breite Allee führte in den Park hinein, weiter hinten sah Sonja Frauen auf Bänken sitzen, Kleinkinder rannten juchzend und kreischend Luftballons nach. Sonja ging langsam, sehr langsam. Sie hielt sich am Rand des Parkwegs im schmalen Schattenwurf der Bäume auf.
Vor ihr war diese unsichtbare Wand. Sie wusste, sie kam nicht daran vorbei. Sie musste sich ihr stellen. Zum x-ten Mal wiederholte sie im Stillen die Tatsache, dass Antonio seit zwanzig Jahren tot
Weitere Kostenlose Bücher