Die Toten von Santa Lucia
Neapel, war am 22. März 1985 in Neapel erschossen worden. Genauer gesagt, in Santa Lucia. Noch genauer gesagt, auf dem Borgo Marinaro. Nur wer geschossen hatte, war auch nach über zwanzig Jahren noch eine offene Frage.
Gentilini konnte sich nicht auf Anhieb an den Fall erinnern. Vor zwanzig Jahren war er noch nicht bei der Kripo gewesen. Er hatte daher aus dem Archiv die Akte angefordert und sich zur ersten Information aus dem Internet ein paar Zeitungsartikel ausgedruckt, die damals zu dem Fall erschienen und elektronisch abrufbar waren. Außerdem hatte er ein altes Schwarzweißfoto von Di Napoli ausgedruckt und es absichtlich nicht digital vergrößert. Sollte es sich tatsächlich um den Mann handeln, nach dem sowohl Sonja als auch ihre Tochter suchten, dann war er im Kleinformat sicherlich erträglicher. Und dann war auch die Frage nach dem Grund für Di Napolis abruptes Verschwinden, von dem Sonja ihm in der vergangenen Nacht erzählt hatte, ein für alle Mal beantwortet.
Als er und Sonja sich eine gute Stunde nach diesem überraschenden Fund auf der fast durchgehend verstopften Präferenzspur für Busse und Taxis den Rettifilo entlangschoben, starrte Sonja entgeistert auf den Computerausdruck des gerade mal streichholzschachtelgroßen Fotos auf dem ansonsten leeren Blatt.
Nein, das ist nicht mein Antonio Di Napoli, dachte sie in einem Anflug von Trotz. Aber er ist es. Unverkennbar. So hat er damals ausgesehen.
»Woher hast du das Foto?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Aus dem Computer«, erwiderte Gentilini lahm.
»Wie bist du auf ihn gestoßen? Hat er eine Homepage? Wieso habe eigentlich ich nicht danach gesucht … Bitte, spann mich nicht so auf die Folter!«
Gentilini schüttelte den Kopf. Ihm war anzusehen, dass er bedrückt war.
»Aber wieso … was …« Sie brach ab, schien plötzlich zu begreifen. »Ach so, ich verstehe. Das ist ein Foto aus eurer polizeiinternen Kartei, womöglich sogar von Interpol, ein Verbrecherfoto …«
»Nein«, sagte Gentilini leise, aber mit Nachdruck. »Du irrst dich. Er wurde … Er ist …«
»Tot?«
Gentilini nickte.
»Er ist tot?«, fragte sie erneut ungläubig, als hätte sie sein Nicken nicht gesehen. Sie schwieg eine Weile.
Gentilini bremste an der roten Ampel gegenüber vom Castel Nuovo. Ein etwa zwölf jähriger Junge wuselte mit einem Eimer voll grauschwarzem Wasser und einem Fensterschwamm mit Gummilippe zwischen den Autos hindurch. Er ließ auch den Polizeiwagen nicht aus. Gentilini hob nur kurz den Zeigefinger und bewegte ihn seinerseits wie einen Scheibenwischer hin und her. Der Junge eilte zum nächsten Auto.
Sonja hatte Routine im systematischen Ordnen, Speichern und Verarbeiten vieler Informationen, doch eine dieser beiden war ihr eindeutig zu viel. In ihrem Kopf drehten sich ununterbrochen und stupide wie auf einer Schallplatte mit Sprung diese beiden Sätze: Es ist Antonio, und Antonio ist tot. Sie gab sich unendlich viel Mühe, den nackten Inhalt der beiden Informationsfragmente zu verstehen und mit ihren Gefühlen in Verbindung zu bringen, aber es gelang ihr nicht. Zumindest nicht so schnell.
»Es war kein natürlicher Tod, habe ich Recht?«, murmelte sie.
»Antonio Di Napoli wurde erschossen.«
Sie schloss die Augen.
Bis zum Hotel sprachen sie kein Wort mehr. Gentilini stimmte diesmal kein Lied an. Wäre er allein gewesen, hätte er das vielleicht getan. Jetzt hielt er sich aus Rücksicht auf Sonja zurück. Am eleganten Eingang des Royalcontinental wimmelte er die Hotelpagen ab, erledigte an der Rezeption die Anmeldeformalitäten und brachte Sonjas Gepäck eigenhändig ins Zimmer Nummer 515 im fünften Stock. Keiner von beiden hatte auch nur einen Blick übrig für die sagenhafte Aussicht, das Wasser, die Insel Capri, heute deutlich und klar in der Ferne zu erkennen. Die Sonne des Südens knallte unbarmherzig gegen die Fensterfront. Gentilini schloss die Tür zum Balkon, zog fürsorglich die Stores vor, ließ die Markise so weit wie möglich ausfahren, regulierte die Klimaanlage. Dann stand er hilflos im Zimmer herum.
»Es tut mir so Leid«, sagte er nach einigen stummen Minuten. »Ich hätte gern eine bessere Nachricht für dich gehabt.«
Sonja drehte sich zu ihm um, sah ihm ins Gesicht. Sie war aufgewühlt, bemühte sich sichtbar um Fassung.
»Wann ist es passiert?«
»Vor gut zwanzig Jahren, im März fünfundachtzig.«
Sie schluckte, drängte die Tränen zurück. »Wer hat ihn erschossen? Und warum?«
Er zögerte. »Das
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