Die Toten von Santa Lucia
Zauber, der große Zauber aller Herrlichkeiten der Natur wirkte nur, wenn das Herz lächelte. Fast sehnte Sonja sich nach dem trostlosen Ausblick aus ihrer schlauchartigen Kammer in der Pension O sole mio. Die hätte wenigstens ihrer Stimmung entsprochen.
Im Speisesaal war ein dionysisches Frühstücksbuffet aufgebaut. Es gab alles, was das Herz begehrte. Sonja aber wünschte sich nichts als eine einfache Bar. Sie wünschte sich ein einfaches Cornetto und einen einfachen schwarzen Espresso. Mehr nicht. Sie bat einen jungen Kellner um tatkräftige Unterstützung. Er brachte ihr auch eine Zeitung. Auf der Titelseite des Mattino wurde die Verhaftung von Benito Abruzzese als bedeutender Schlag gegen das organisierte Verbrechen gefeiert. Auf Seite zwei gab es diesmal ein Kurzinterview mit einem pensionierten Oberstaatsanwalt, der die ihm gestellten Fragen zum italienischen Rechtssystem (ob die Vielzahl der derzeit anhängigen Verfahren überhaupt zu bewältigen sei; ob die Fristen der Untersuchungshaft nicht gesetzlich verlängert werden müssten, um den personellen Notstand in der Justiz auszugleichen) rhetorisch glänzend umschiffte. Gentilini hatte wesentlich originellere Sachen gesagt. Auf Seite vier las Sonja, dass Neapel im Müll zu ersticken drohe, weil sämtliche Mülldeponien Kampaniens restlos überfüllt waren. Auf Seite neun erfuhr sie, dass Überschwemmungen in Norditalien einen Erdrutsch verursacht hatten. Der Wetterbericht kündigte eine neue Hitzewelle an. Der Sportteil interessierte Sonja nicht.
Sie ließ die Zeitung sinken. Und nun? Wie ging es weiter, was sollte sie tun? Warten? Warten war das Schlimmste überhaupt. Darauf zu warten, dass jemand anrief. Darauf zu warten, dass etwas passierte. Manche Leute konnten das. Sie warteten, dass Dinge und Menschen auf sie zukamen, blieben dabei gelassen und starben vielleicht statistisch gesehen nicht so häufig an Herzinfarkt. Egal, was andere Leute konnten oder nicht Sonja wusste, dass es ihr jedenfalls unerträglich wäre, untätig im Hotel zu hocken und darauf zu warten, dass Gentilini endlich anrief, um ihr zu sagen, er habe immer noch keine Spur von Luzie. Darauf zu warten, Tage, Wochen, Monate, dass Luzie sich bei irgendwem meldete.
Undenkbar! Sie musste etwas unternehmen. Sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Wer Antonio damals umgebracht hatte und warum, wer Libero Zazzera umgebracht hatte und warum – das war beides nicht ihr Thema. Ihre Aufgabe war lediglich herauszufinden, wo Luzie steckte. Notfalls fing sie eben wieder von vorn an: bei den Sprachenschulen, den Cafés, den billigen Pensionen, auch im Konsulat.
Ihr Handy klingelte.
Zuerst merkte sie gar nicht, dass es ihr eigenes beziehungsweise Vittorios Handy war, weil sie den Klingelton nicht erkannte. Sie wunderte sich nur, woher auf einmal time after time in der Version von Miles Davis erklang, noch dazu so beharrlich lange …
Es war Gentilini. Sie merkte, wie sie sich freute, seine Stimme zu hören.
»Gerade eben hat die Schreckschraube aus deiner Pension angerufen.«
»Signora Russo?«
»Genau die. Aber mit mir wollte sie nicht reden. Sie hat offenbar eine Nachricht für dich. Was sie zu sagen habe, werde sie ausschließlich der deutschen Signora höchstpersönlich mitteilen«, imitierte er ihre affektierte Stimme. »Ich habe meinen ganzen Charme eingesetzt, aber sie hat mir nicht verraten wollen, worum es geht. Hast du sie mit irgendetwas bestochen? Bist du so viel liebreizender als ich?«
Sonja musste lachen. »Ich bin eine Frau.«
»Was willst du damit sagen? Dass die Schreckschraube auf Frauen steht?«
»Unsinn. Dass Frauen manchmal zusammenhalten.«
»Pass bloß auf, die will nur Geld«, sagte Gentilini.
»Wenn das dahinterstecken sollte, dann kannst du ihr ausrichten, dass ihre Pension ab nächsten Montag geschlossen wird. Ich werde eigenhändig und höchstpersönlich dafür sorgen, dass ihr ein richterlicher Beschluss …«
Aber Sonja hörte kaum noch zu. Was konnte das für eine Nachricht sein? Hatte jemand angerufen? Lion und Maris wussten, dass sie nicht mehr dort wohnte. Also vielleicht jemand von der Sprachenschule? Eine der beiden Finninnen? Oder womöglich eine der beiden jungen Frauen aus der Touristeninformation? Wo hatte sie ihre Telefonnummer sonst noch hinterlassen?
Gentilini hatte inzwischen das Thema gewechselt – »Scusa«, unterbrach sie seinen Wortfluss, »ich war in Gedanken woanders, was hast du gerade gesagt?«
»Ich sagte, dass ich den
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